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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824.

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aber kam dieser Cultus wahrscheinlich von Lemnos 1,
einem Hauptsitze desselben. Ich habe schon anderwärts
die Vermuthung geäußert: daß Lemnos in früherer
Sage Taurien war, daß es vom Stiersymbol der
Göttin diesen poetischen Namen erhielt, wie Lykien
den später geographisch gewordenen vom Symbol des
Wolfes. Auch hier in Lemnos wurde eine große Göt-
tin mit Jungfrauenopfern ehemals verehrt, hier hatte
Thoas geherrscht, der nach Taurien hinübergeschwom-
men sein soll; nach Lemnos soll das Holzbild von Brau-
ron gebracht sein 2. Noch evidenter wird diese An-
sicht durch die Parallele des Dienstes der Chryse. Aga-
memnon soll mit der Troischen Chryseis außer der
Iphigeneia auch die Chryse erzeugt haben 3. Nach
andern auch einen Chryses, der mit Orest nach Tau-
rien ging 4. Nun wissen wir aber sicher, daß Chryse
eine zu Lemnos, wie auch zu Samothrake, seit alter
Zeit verehrte Gottheit war. Schon die Argonauten
unter Herakles und Jason sollen ihr geopfert haben;
und man sieht ihr altväterisches Holzbild über einem
Heerde aus rohen Feldsteinen errichtet noch auf alten
Vasengemälden 5, Philoktetes soll bei der Wiederauf-
findung dieses Altars 6 von der Schlange gebissen wor-
den sein 7. Wahrscheinlich war diese Chryse, die auch
Athena genannt wird, nur eine andere Form ihrer
Schwester Iphigeneia; zur Erklärung des Namens

1 S. die verwirrte Geschichte Plut. Virt. mul. 7. Qu. Gr.
21. Polyän 7, 49.
2 Bd. 1. S. 311.
3 Stym. M.
815, 59.
4 Hygin fb. 121. von den zwei Chryses.
5 Uh-
den, Schriften der Berl. Akad. 1815. Phil. Cl. S. 63. Millingen
Divers. peint. pl. 51. Welcker bei Dissen Expl. Pind. p. 512.
vgl. Buttmann zum Philokt. ad Arg. metr. p. 57.
6 Das
Gemälde bei Philostr. Ikon. 17. Dio Chrysost. R. 59, 577, 21.
7 Millingen pl. 50.

aber kam dieſer Cultus wahrſcheinlich von Lemnos 1,
einem Hauptſitze deſſelben. Ich habe ſchon anderwaͤrts
die Vermuthung geaͤußert: daß Lemnos in fruͤherer
Sage Taurien war, daß es vom Stierſymbol der
Goͤttin dieſen poëtiſchen Namen erhielt, wie Lykien
den ſpaͤter geographiſch gewordenen vom Symbol des
Wolfes. Auch hier in Lemnos wurde eine große Goͤt-
tin mit Jungfrauenopfern ehemals verehrt, hier hatte
Thoas geherrſcht, der nach Taurien hinuͤbergeſchwom-
men ſein ſoll; nach Lemnos ſoll das Holzbild von Brau-
ron gebracht ſein 2. Noch evidenter wird dieſe An-
ſicht durch die Parallele des Dienſtes der Chryſe. Aga-
memnon ſoll mit der Troiſchen Chryſeis außer der
Iphigeneia auch die Chryſe erzeugt haben 3. Nach
andern auch einen Chryſes, der mit Oreſt nach Tau-
rien ging 4. Nun wiſſen wir aber ſicher, daß Chryſe
eine zu Lemnos, wie auch zu Samothrake, ſeit alter
Zeit verehrte Gottheit war. Schon die Argonauten
unter Herakles und Jaſon ſollen ihr geopfert haben;
und man ſieht ihr altvaͤteriſches Holzbild uͤber einem
Heerde aus rohen Feldſteinen errichtet noch auf alten
Vaſengemaͤlden 5, Philoktetes ſoll bei der Wiederauf-
findung dieſes Altars 6 von der Schlange gebiſſen wor-
den ſein 7. Wahrſcheinlich war dieſe Chryſe, die auch
Athena genannt wird, nur eine andere Form ihrer
Schweſter Iphigeneia; zur Erklaͤrung des Namens

1 S. die verwirrte Geſchichte Plut. Virt. mul. 7. Qu. Gr.
21. Polyaͤn 7, 49.
2 Bd. 1. S. 311.
3 Stym. M.
815, 59.
4 Hygin fb. 121. von den zwei Chryſes.
5 Uh-
den, Schriften der Berl. Akad. 1815. Phil. Cl. S. 63. Millingen
Divers. peint. pl. 51. Welcker bei Diſſen Expl. Pind. p. 512.
vgl. Buttmann zum Philokt. ad Arg. metr. p. 57.
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Gemaͤlde bei Philoſtr. Ikon. 17. Dio Chryſoſt. R. 59, 577, 21.
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[384/0414] aber kam dieſer Cultus wahrſcheinlich von Lemnos 1, einem Hauptſitze deſſelben. Ich habe ſchon anderwaͤrts die Vermuthung geaͤußert: daß Lemnos in fruͤherer Sage Taurien war, daß es vom Stierſymbol der Goͤttin dieſen poëtiſchen Namen erhielt, wie Lykien den ſpaͤter geographiſch gewordenen vom Symbol des Wolfes. Auch hier in Lemnos wurde eine große Goͤt- tin mit Jungfrauenopfern ehemals verehrt, hier hatte Thoas geherrſcht, der nach Taurien hinuͤbergeſchwom- men ſein ſoll; nach Lemnos ſoll das Holzbild von Brau- ron gebracht ſein 2. Noch evidenter wird dieſe An- ſicht durch die Parallele des Dienſtes der Chryſe. Aga- memnon ſoll mit der Troiſchen Chryſeis außer der Iphigeneia auch die Chryſe erzeugt haben 3. Nach andern auch einen Chryſes, der mit Oreſt nach Tau- rien ging 4. Nun wiſſen wir aber ſicher, daß Chryſe eine zu Lemnos, wie auch zu Samothrake, ſeit alter Zeit verehrte Gottheit war. Schon die Argonauten unter Herakles und Jaſon ſollen ihr geopfert haben; und man ſieht ihr altvaͤteriſches Holzbild uͤber einem Heerde aus rohen Feldſteinen errichtet noch auf alten Vaſengemaͤlden 5, Philoktetes ſoll bei der Wiederauf- findung dieſes Altars 6 von der Schlange gebiſſen wor- den ſein 7. Wahrſcheinlich war dieſe Chryſe, die auch Athena genannt wird, nur eine andere Form ihrer Schweſter Iphigeneia; zur Erklaͤrung des Namens 1 S. die verwirrte Geſchichte Plut. Virt. mul. 7. Qu. Gr. 21. Polyaͤn 7, 49. 2 Bd. 1. S. 311. 3 Stym. M. 815, 59. 4 Hygin fb. 121. von den zwei Chryſes. 5 Uh- den, Schriften der Berl. Akad. 1815. Phil. Cl. S. 63. Millingen Divers. peint. pl. 51. Welcker bei Diſſen Expl. Pind. p. 512. vgl. Buttmann zum Philokt. ad Arg. metr. p. 57. 6 Das Gemaͤlde bei Philoſtr. Ikon. 17. Dio Chryſoſt. R. 59, 577, 21. 7 Millingen pl. 50.

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824/414>, abgerufen am 22.11.2024.