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Müller, Wilhelm: Debora. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–148. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Monate in Florenz und Pisa zubringen und gegen den Winter über Venedig nach Wien zurückkehren, um dort seine Reise mit einer medicinischen Streiferei zu beschließen. Und was dann? frug er nachdrücklich und konnte oder wollte sich keine befriedigende Antwort geben. Er schweifte wieder hinaus in die nebelblauen Fernen unklarer Hoffnungen und Wünsche, spielte mit unglaublichen Erwartungen und unwahrscheinlichen Zufällen und verlor sich allmählich in die bunte Wüste seiner abenteuerlichen Phantasieen.

Da schwebte auch das Bild der Lureley, wie jener Traum kurz vor seiner Abreise aus Berlin es ihm gemalt hatte, in den zu allen Freuden und Leiden der Liebe gereiften Zügen seiner kleinen Minna an ihm vorüber und verwirrte sich, wie damals, mit dem geheimnißvollen Portrait in dem Tempel des Marquis. Dieses regte jetzt seine Neugier bis zu den verwandten Gefühlen einer peinigenden Sehnsucht auf. Es war ihm nicht mehr verschlossen, das wunderbare Bild, welches, ohne daß er es jemals mit wachen Sinnen angeschauet hatte, sich doch schon in seinem Herzen abgespiegelt zu haben schien; jeden Augenblick konnte er die dunkle Tiefe seines Verlangens durch die Betrachtung desselben aufklären; ja, er hatte vor wenigen Stunden dicht neben dem Altare gestanden, welcher das Pappenhäuschen trug, an dessen Fenster das Portrait sich lehnen sollte. Hätten nicht die Schauer der Mitternacht ihn zurückgehalten, sich durch

Monate in Florenz und Pisa zubringen und gegen den Winter über Venedig nach Wien zurückkehren, um dort seine Reise mit einer medicinischen Streiferei zu beschließen. Und was dann? frug er nachdrücklich und konnte oder wollte sich keine befriedigende Antwort geben. Er schweifte wieder hinaus in die nebelblauen Fernen unklarer Hoffnungen und Wünsche, spielte mit unglaublichen Erwartungen und unwahrscheinlichen Zufällen und verlor sich allmählich in die bunte Wüste seiner abenteuerlichen Phantasieen.

Da schwebte auch das Bild der Lureley, wie jener Traum kurz vor seiner Abreise aus Berlin es ihm gemalt hatte, in den zu allen Freuden und Leiden der Liebe gereiften Zügen seiner kleinen Minna an ihm vorüber und verwirrte sich, wie damals, mit dem geheimnißvollen Portrait in dem Tempel des Marquis. Dieses regte jetzt seine Neugier bis zu den verwandten Gefühlen einer peinigenden Sehnsucht auf. Es war ihm nicht mehr verschlossen, das wunderbare Bild, welches, ohne daß er es jemals mit wachen Sinnen angeschauet hatte, sich doch schon in seinem Herzen abgespiegelt zu haben schien; jeden Augenblick konnte er die dunkle Tiefe seines Verlangens durch die Betrachtung desselben aufklären; ja, er hatte vor wenigen Stunden dicht neben dem Altare gestanden, welcher das Pappenhäuschen trug, an dessen Fenster das Portrait sich lehnen sollte. Hätten nicht die Schauer der Mitternacht ihn zurückgehalten, sich durch

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[0097] Monate in Florenz und Pisa zubringen und gegen den Winter über Venedig nach Wien zurückkehren, um dort seine Reise mit einer medicinischen Streiferei zu beschließen. Und was dann? frug er nachdrücklich und konnte oder wollte sich keine befriedigende Antwort geben. Er schweifte wieder hinaus in die nebelblauen Fernen unklarer Hoffnungen und Wünsche, spielte mit unglaublichen Erwartungen und unwahrscheinlichen Zufällen und verlor sich allmählich in die bunte Wüste seiner abenteuerlichen Phantasieen. Da schwebte auch das Bild der Lureley, wie jener Traum kurz vor seiner Abreise aus Berlin es ihm gemalt hatte, in den zu allen Freuden und Leiden der Liebe gereiften Zügen seiner kleinen Minna an ihm vorüber und verwirrte sich, wie damals, mit dem geheimnißvollen Portrait in dem Tempel des Marquis. Dieses regte jetzt seine Neugier bis zu den verwandten Gefühlen einer peinigenden Sehnsucht auf. Es war ihm nicht mehr verschlossen, das wunderbare Bild, welches, ohne daß er es jemals mit wachen Sinnen angeschauet hatte, sich doch schon in seinem Herzen abgespiegelt zu haben schien; jeden Augenblick konnte er die dunkle Tiefe seines Verlangens durch die Betrachtung desselben aufklären; ja, er hatte vor wenigen Stunden dicht neben dem Altare gestanden, welcher das Pappenhäuschen trug, an dessen Fenster das Portrait sich lehnen sollte. Hätten nicht die Schauer der Mitternacht ihn zurückgehalten, sich durch

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T15:21:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T15:21:38Z)

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Zitationshilfe: Müller, Wilhelm: Debora. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–148. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_debora_1910/97>, abgerufen am 07.05.2024.