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Müller, Wilhelm: Debora. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–148. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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das Zimmer, in welchem das Lager des Todten stand, nach dem Heiligthume desselben zu schleichen, so wäre wohl der Morgen von ihm nicht erwartet worden, um sich des ängstlich ersehnten Portraits zu bemächtigen. Aber kaum fing es an, hinter seinen Fenstergardinen zu dämmern und über ihm in der Wohnung des Professors laut zu werden, als er aufstand, sich einen Schlafrock überwarf und mit seiner Lampe durch die halberhellten Zimmer nach dem Tempel des Marquis eilte. Dennoch wagte er nicht, im Vorbeigehen einen Blick auf die Leiche zu werfen, welche nicht weit von der Thüre des Cabinets auf einer Bahre lag. Da schläft der alte Wächter des Heiligthumes, dachte er bei sich und bebte zusammen. Er wird erwachen und sich aufrichten und den Tempelräuber anrufen.

Hastig riß er die Thüre des finstern Cabinets auf. Da heulte ihm der alte Bologneser jämmerlich entgegen und drängte sich zwischen seinen Füßen hinaus, um seinen Herrn zu suchen. Er leuchtete nach dem Altare und erblickte auf demselben das kleine Haus, das große Fenster und dahinter das Portrait. Es lief ihm heiß und kalt durch alle Nerven und Adern von dem Scheitel bis in die Zehen. Eine unergründliche Fülle von Schönheit und Schmerz lag in den Zügen dieses Bildes; die großen braunen Augen, in einem bläulichen Meere schwimmend, wollten ihn mit sich hinabschlingen in ihre Tiefe, und die schwarzen

das Zimmer, in welchem das Lager des Todten stand, nach dem Heiligthume desselben zu schleichen, so wäre wohl der Morgen von ihm nicht erwartet worden, um sich des ängstlich ersehnten Portraits zu bemächtigen. Aber kaum fing es an, hinter seinen Fenstergardinen zu dämmern und über ihm in der Wohnung des Professors laut zu werden, als er aufstand, sich einen Schlafrock überwarf und mit seiner Lampe durch die halberhellten Zimmer nach dem Tempel des Marquis eilte. Dennoch wagte er nicht, im Vorbeigehen einen Blick auf die Leiche zu werfen, welche nicht weit von der Thüre des Cabinets auf einer Bahre lag. Da schläft der alte Wächter des Heiligthumes, dachte er bei sich und bebte zusammen. Er wird erwachen und sich aufrichten und den Tempelräuber anrufen.

Hastig riß er die Thüre des finstern Cabinets auf. Da heulte ihm der alte Bologneser jämmerlich entgegen und drängte sich zwischen seinen Füßen hinaus, um seinen Herrn zu suchen. Er leuchtete nach dem Altare und erblickte auf demselben das kleine Haus, das große Fenster und dahinter das Portrait. Es lief ihm heiß und kalt durch alle Nerven und Adern von dem Scheitel bis in die Zehen. Eine unergründliche Fülle von Schönheit und Schmerz lag in den Zügen dieses Bildes; die großen braunen Augen, in einem bläulichen Meere schwimmend, wollten ihn mit sich hinabschlingen in ihre Tiefe, und die schwarzen

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[0098] das Zimmer, in welchem das Lager des Todten stand, nach dem Heiligthume desselben zu schleichen, so wäre wohl der Morgen von ihm nicht erwartet worden, um sich des ängstlich ersehnten Portraits zu bemächtigen. Aber kaum fing es an, hinter seinen Fenstergardinen zu dämmern und über ihm in der Wohnung des Professors laut zu werden, als er aufstand, sich einen Schlafrock überwarf und mit seiner Lampe durch die halberhellten Zimmer nach dem Tempel des Marquis eilte. Dennoch wagte er nicht, im Vorbeigehen einen Blick auf die Leiche zu werfen, welche nicht weit von der Thüre des Cabinets auf einer Bahre lag. Da schläft der alte Wächter des Heiligthumes, dachte er bei sich und bebte zusammen. Er wird erwachen und sich aufrichten und den Tempelräuber anrufen. Hastig riß er die Thüre des finstern Cabinets auf. Da heulte ihm der alte Bologneser jämmerlich entgegen und drängte sich zwischen seinen Füßen hinaus, um seinen Herrn zu suchen. Er leuchtete nach dem Altare und erblickte auf demselben das kleine Haus, das große Fenster und dahinter das Portrait. Es lief ihm heiß und kalt durch alle Nerven und Adern von dem Scheitel bis in die Zehen. Eine unergründliche Fülle von Schönheit und Schmerz lag in den Zügen dieses Bildes; die großen braunen Augen, in einem bläulichen Meere schwimmend, wollten ihn mit sich hinabschlingen in ihre Tiefe, und die schwarzen

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T15:21:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T15:21:38Z)

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Zitationshilfe: Müller, Wilhelm: Debora. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–148. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_debora_1910/98>, abgerufen am 06.05.2024.