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Müller, Wilhelm: Debora. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–148. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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ungsloser Beklommenheit stockte, hatte sich noch nicht in diese erste Wundererscheinung hineingedacht, als schon eine andre mit unendlicher Uebergewalt seine ganze Seele an sich riß. Die weiße Gestalt setzte das Crucifix auf einen Vorsprung der Mauer, warf sich mit gefalteten Händen vor demselben nieder und brachte durch eine plötzliche Wendung des Körpers ihr halbes Gesicht in den Bereich des durch die Spalte zielenden Auges. Es war Debora, das lebendige Original des Götzenbildes seiner Liebe, es war das verkörperte Traumbild seiner Nächte und Tage, es war Minna, Lureley und Maria, was Arthur's erster Blick in diesem einen Antlitz erkannt zu haben wähnte. Und dieses Wunder offenbarte sich ihm nicht in der kalten Uebereinstimmung von Formen und Farben, sondern in einer aus der innersten Statur herausgebildeten Gleichheit der Seele, welche sich in schmerzlich süßen Mienen und unergründlich tiefen Augen voll Sehnsucht und Ergebung spiegelte.

Arthur selbst hat es nicht angeben können, ob er bei diesem Anblick den Namen Debora ausgerufen, oder mit seiner Stirne gegen die Bretter gestoßen habe. Da sprang die Betende, wie ein Reh nach dem Fehlschusse des Jägers, in ängstlicher Hast von ihren Knieen auf, griff nach dem Crucifix und blies die Lampen aus. Zu gleicher Zeit rief der Professor, und Arthur, welcher in diesem Augenblicke gerade noch so viel Bewußtsein in seinem zerrütteten Geiste zu-

ungsloser Beklommenheit stockte, hatte sich noch nicht in diese erste Wundererscheinung hineingedacht, als schon eine andre mit unendlicher Uebergewalt seine ganze Seele an sich riß. Die weiße Gestalt setzte das Crucifix auf einen Vorsprung der Mauer, warf sich mit gefalteten Händen vor demselben nieder und brachte durch eine plötzliche Wendung des Körpers ihr halbes Gesicht in den Bereich des durch die Spalte zielenden Auges. Es war Debora, das lebendige Original des Götzenbildes seiner Liebe, es war das verkörperte Traumbild seiner Nächte und Tage, es war Minna, Lureley und Maria, was Arthur's erster Blick in diesem einen Antlitz erkannt zu haben wähnte. Und dieses Wunder offenbarte sich ihm nicht in der kalten Uebereinstimmung von Formen und Farben, sondern in einer aus der innersten Statur herausgebildeten Gleichheit der Seele, welche sich in schmerzlich süßen Mienen und unergründlich tiefen Augen voll Sehnsucht und Ergebung spiegelte.

Arthur selbst hat es nicht angeben können, ob er bei diesem Anblick den Namen Debora ausgerufen, oder mit seiner Stirne gegen die Bretter gestoßen habe. Da sprang die Betende, wie ein Reh nach dem Fehlschusse des Jägers, in ängstlicher Hast von ihren Knieen auf, griff nach dem Crucifix und blies die Lampen aus. Zu gleicher Zeit rief der Professor, und Arthur, welcher in diesem Augenblicke gerade noch so viel Bewußtsein in seinem zerrütteten Geiste zu-

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[0132] ungsloser Beklommenheit stockte, hatte sich noch nicht in diese erste Wundererscheinung hineingedacht, als schon eine andre mit unendlicher Uebergewalt seine ganze Seele an sich riß. Die weiße Gestalt setzte das Crucifix auf einen Vorsprung der Mauer, warf sich mit gefalteten Händen vor demselben nieder und brachte durch eine plötzliche Wendung des Körpers ihr halbes Gesicht in den Bereich des durch die Spalte zielenden Auges. Es war Debora, das lebendige Original des Götzenbildes seiner Liebe, es war das verkörperte Traumbild seiner Nächte und Tage, es war Minna, Lureley und Maria, was Arthur's erster Blick in diesem einen Antlitz erkannt zu haben wähnte. Und dieses Wunder offenbarte sich ihm nicht in der kalten Uebereinstimmung von Formen und Farben, sondern in einer aus der innersten Statur herausgebildeten Gleichheit der Seele, welche sich in schmerzlich süßen Mienen und unergründlich tiefen Augen voll Sehnsucht und Ergebung spiegelte. Arthur selbst hat es nicht angeben können, ob er bei diesem Anblick den Namen Debora ausgerufen, oder mit seiner Stirne gegen die Bretter gestoßen habe. Da sprang die Betende, wie ein Reh nach dem Fehlschusse des Jägers, in ängstlicher Hast von ihren Knieen auf, griff nach dem Crucifix und blies die Lampen aus. Zu gleicher Zeit rief der Professor, und Arthur, welcher in diesem Augenblicke gerade noch so viel Bewußtsein in seinem zerrütteten Geiste zu-

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T15:21:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T15:21:38Z)

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Zitationshilfe: Müller, Wilhelm: Debora. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–148. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_debora_1910/132>, abgerufen am 06.05.2024.