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Müller, Wilhelm: Debora. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–148. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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die von mehreren Lampen glänzend erleuchtet war und das Ansehn eines antiken Bauwerkes hatte. Scherben von Gold und Silber und einige zerbrochene Spiegel lagen übereinandergeworfen auf dem Boden, dazwischen zerrissene Uniformen und durchlöcherte Tressenhüte mit vielem andern Trödel dieser Art. Der Winkel, aus welchem das Geräusch herkam, war durch die Spalte mit keinem Blicke zu erreichen, aber der Lauscher hörte deutlich, daß ein Stein aus der Mauer herausgenommen und wieder hineingeschoben wurde. Dann trat aus jener verborgenen Ecke eine große, schlanke Frauengestalt in einem langen weißen Kleide hervor, die ein Crucifix mit beiden Händen über ihrem Haupte in die Höhe trug und in langsamer Bewegung nach der Seite des Gemaches vorschritt, welche der Spalte gerade gegenüber stand. Arthur konnte nur ihren Rücken sehen, aber das Crucifix war ihm zugekehrt, und er erkannte sogleich den silbernen Gekreuzigten an einem Holze von rothen Korallen. Ein Schauer des Entsetzens und der Ahnung durchrieselte ihn in diesem Anblick. Es war jenes Crucifix des spanischen Schülers, das Geschenk desselben an die Getaufte des Ghetto, ganz treu und vollständig übereinstimmend mit der Bezeichnung in der Ueberschrift seines Liedes. Der Jüngling, fieberhaft zitternd an allen Gliedern, mit wirbelnden Sinnen und einem Herzen, welches bald seine Brust zersprengen wollte, bald zusammengepreßt in bereg-

die von mehreren Lampen glänzend erleuchtet war und das Ansehn eines antiken Bauwerkes hatte. Scherben von Gold und Silber und einige zerbrochene Spiegel lagen übereinandergeworfen auf dem Boden, dazwischen zerrissene Uniformen und durchlöcherte Tressenhüte mit vielem andern Trödel dieser Art. Der Winkel, aus welchem das Geräusch herkam, war durch die Spalte mit keinem Blicke zu erreichen, aber der Lauscher hörte deutlich, daß ein Stein aus der Mauer herausgenommen und wieder hineingeschoben wurde. Dann trat aus jener verborgenen Ecke eine große, schlanke Frauengestalt in einem langen weißen Kleide hervor, die ein Crucifix mit beiden Händen über ihrem Haupte in die Höhe trug und in langsamer Bewegung nach der Seite des Gemaches vorschritt, welche der Spalte gerade gegenüber stand. Arthur konnte nur ihren Rücken sehen, aber das Crucifix war ihm zugekehrt, und er erkannte sogleich den silbernen Gekreuzigten an einem Holze von rothen Korallen. Ein Schauer des Entsetzens und der Ahnung durchrieselte ihn in diesem Anblick. Es war jenes Crucifix des spanischen Schülers, das Geschenk desselben an die Getaufte des Ghetto, ganz treu und vollständig übereinstimmend mit der Bezeichnung in der Ueberschrift seines Liedes. Der Jüngling, fieberhaft zitternd an allen Gliedern, mit wirbelnden Sinnen und einem Herzen, welches bald seine Brust zersprengen wollte, bald zusammengepreßt in bereg-

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T15:21:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T15:21:38Z)

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Zitationshilfe: Müller, Wilhelm: Debora. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–148. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_debora_1910/131>, abgerufen am 25.11.2024.