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Mühlpfort, Heinrich: Teutsche Gedichte. Bd. 1. Breslau u. a., 1686.

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Leichen-Gedichte.
Sein abgemartert Leib und außgekreischte Knochen/
Das Eyter volle Fleisch/ der heßliche Gestanck/
Die Glied er hin und her vom Fäulniß gantz durchkrochen/
Er selbst/ sein Folterer und eigne Folterbanck/
Belehrten/ was der Mensch/ und sein vergänglich Wesen/
Wie er noch lebendig sich schon zu Grabe trägt;
Daß immer Noth auf Noth/ so bald er nur genesen/
Auf seines Lebens Schiff/ gleich einer Welle/ schlägt.
Und vielen wird der Leib der Mutter auch zum Grabe/
Viel fallen Blumen gleich im ersten Frühling hin.
Gesetzt schon/ daß der Mensch von Jahren etwas habe/
Raubt nicht die Eitelkeit den Rest noch zum Gewin?
Was ist die Wissenschafft/ in welcher wir uns brüsten?
Ein Wahn/ der meistentheils aus falschem Grunde quillt.
Was ist die Weißheit denn/ nach der so viel gelüsten?
Ein eingebildtes Thun/ so bey sich selbst nur gilt.
Was ist denn der Verstand? ein unvollkommen Sinnen.
Was die Erforschung denn? gantz eine leere Müh.
Daß Reichthum? ein solch Gut/ das flüchtig muß zerrinnen.
Die Schönheit der Gestalt? der Augen Phantasie.
Was die Gerechtigkeit? ein Tuch/ das/ sehr beflecket.
Was Hoheit? ein glatt Eiß/ auf dem man leichtlich fällt.
Was mächtige Gewalt? ein Nest/ das Sünden hecket:
Und kurtz; ein Schattenwerck ist aller Pacht der Welt.
Wenn nun ein feurig Geist in Himmel gantz verliebet/
Und von der Ewigkeit schon einen Vorschmack fühlt/
Das Marter-Haus den Leib großmütig übergiebet/
Wer zweiffelt/ daß er nicht den besten Zweck erziehlt?
Wir suchen Ruh und Lust auf Erden nur vergebens/
Vom Kummer abgematt' von Schmertzen abgezehrt:
Ja wir empfinden auch den Uberdruß des Lebens/
Wenn von des Cörpers Last die Seele wird beschwert.
Was ists nun daß wir uns so lange hier gesäumet/
Wenn uns zu letzte noch muß vor uns selber graun?
Wenn meistens der Verstand dem Menschen ist enträumet/
Und er nicht ferner kan auf sein Gedächtnüs baun:
Wenn sich die Augen schon in tieffe Nacht verstecken/
Und sich die kalte Stirn in lauter Runtzeln zeucht/
Wenn man die Hände nicht vor Zittern auß kan strecken/
Den siechen Rücken krümt und kaum aus schwachheit kreucht:
Wenn
Leichen-Gedichte.
Sein abgemartert Leib und außgekreiſchte Knochen/
Das Eyter volle Fleiſch/ der heßliche Geſtanck/
Die Glied er hin und her vom Faͤulniß gantz durchkrochen/
Er ſelbſt/ ſein Folterer und eigne Folterbanck/
Belehrten/ was der Menſch/ und ſein vergaͤnglich Weſen/
Wie er noch lebendig ſich ſchon zu Grabe traͤgt;
Daß immer Noth auf Noth/ ſo bald er nur geneſen/
Auf ſeines Lebens Schiff/ gleich einer Welle/ ſchlaͤgt.
Und vielen wird der Leib der Mutter auch zum Grabe/
Viel fallen Blumen gleich im erſten Fruͤhling hin.
Geſetzt ſchon/ daß der Menſch von Jahren etwas habe/
Raubt nicht die Eitelkeit den Reſt noch zum Gewin?
Was iſt die Wiſſenſchafft/ in welcher wir uns bruͤſten?
Ein Wahn/ der meiſtentheils aus falſchem Grunde quillt.
Was iſt die Weißheit denn/ nach der ſo viel geluͤſten?
Ein eingebildtes Thun/ ſo bey ſich ſelbſt nur gilt.
Was iſt denn der Verſtand? ein unvollkommen Sinnen.
Was die Erforſchung denn? gantz eine leere Muͤh.
Daß Reichthum? ein ſolch Gut/ das fluͤchtig muß zerrinnen.
Die Schoͤnheit der Geſtalt? der Augen Phantaſie.
Was die Gerechtigkeit? ein Tuch/ das/ ſehr beflecket.
Was Hoheit? ein glatt Eiß/ auf dem man leichtlich faͤllt.
Was maͤchtige Gewalt? ein Neſt/ das Suͤnden hecket:
Und kurtz; ein Schattenwerck iſt aller Pacht der Welt.
Wenn nun ein feurig Geiſt in Himmel gantz verliebet/
Und von der Ewigkeit ſchon einen Vorſchmack fuͤhlt/
Das Marter-Haus den Leib großmuͤtig uͤbergiebet/
Wer zweiffelt/ daß er nicht den beſten Zweck erziehlt?
Wir ſuchen Ruh und Luſt auf Erden nur vergebens/
Vom Kummer abgematt’ von Schmertzen abgezehrt:
Ja wir empfinden auch den Uberdruß des Lebens/
Wenn von des Coͤrpers Laſt die Seele wird beſchwert.
Was iſts nun daß wir uns ſo lange hier geſaͤumet/
Wenn uns zu letzte noch muß vor uns ſelber graun?
Wenn meiſtens der Verſtand dem Menſchen iſt entraͤumet/
Und er nicht ferner kan auf ſein Gedaͤchtnuͤs baun:
Wenn ſich die Augen ſchon in tieffe Nacht verſtecken/
Und ſich die kalte Stirn in lauter Runtzeln zeucht/
Wenn man die Haͤnde nicht vor Zittern auß kan ſtrecken/
Den ſiechen Ruͤcken kruͤmt und kaum aus ſchwachheit kreucht:
Wenn
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[93/0325] Leichen-Gedichte. Sein abgemartert Leib und außgekreiſchte Knochen/ Das Eyter volle Fleiſch/ der heßliche Geſtanck/ Die Glied er hin und her vom Faͤulniß gantz durchkrochen/ Er ſelbſt/ ſein Folterer und eigne Folterbanck/ Belehrten/ was der Menſch/ und ſein vergaͤnglich Weſen/ Wie er noch lebendig ſich ſchon zu Grabe traͤgt; Daß immer Noth auf Noth/ ſo bald er nur geneſen/ Auf ſeines Lebens Schiff/ gleich einer Welle/ ſchlaͤgt. Und vielen wird der Leib der Mutter auch zum Grabe/ Viel fallen Blumen gleich im erſten Fruͤhling hin. Geſetzt ſchon/ daß der Menſch von Jahren etwas habe/ Raubt nicht die Eitelkeit den Reſt noch zum Gewin? Was iſt die Wiſſenſchafft/ in welcher wir uns bruͤſten? Ein Wahn/ der meiſtentheils aus falſchem Grunde quillt. Was iſt die Weißheit denn/ nach der ſo viel geluͤſten? Ein eingebildtes Thun/ ſo bey ſich ſelbſt nur gilt. Was iſt denn der Verſtand? ein unvollkommen Sinnen. Was die Erforſchung denn? gantz eine leere Muͤh. Daß Reichthum? ein ſolch Gut/ das fluͤchtig muß zerrinnen. Die Schoͤnheit der Geſtalt? der Augen Phantaſie. Was die Gerechtigkeit? ein Tuch/ das/ ſehr beflecket. Was Hoheit? ein glatt Eiß/ auf dem man leichtlich faͤllt. Was maͤchtige Gewalt? ein Neſt/ das Suͤnden hecket: Und kurtz; ein Schattenwerck iſt aller Pacht der Welt. Wenn nun ein feurig Geiſt in Himmel gantz verliebet/ Und von der Ewigkeit ſchon einen Vorſchmack fuͤhlt/ Das Marter-Haus den Leib großmuͤtig uͤbergiebet/ Wer zweiffelt/ daß er nicht den beſten Zweck erziehlt? Wir ſuchen Ruh und Luſt auf Erden nur vergebens/ Vom Kummer abgematt’ von Schmertzen abgezehrt: Ja wir empfinden auch den Uberdruß des Lebens/ Wenn von des Coͤrpers Laſt die Seele wird beſchwert. Was iſts nun daß wir uns ſo lange hier geſaͤumet/ Wenn uns zu letzte noch muß vor uns ſelber graun? Wenn meiſtens der Verſtand dem Menſchen iſt entraͤumet/ Und er nicht ferner kan auf ſein Gedaͤchtnuͤs baun: Wenn ſich die Augen ſchon in tieffe Nacht verſtecken/ Und ſich die kalte Stirn in lauter Runtzeln zeucht/ Wenn man die Haͤnde nicht vor Zittern auß kan ſtrecken/ Den ſiechen Ruͤcken kruͤmt und kaum aus ſchwachheit kreucht: Wenn

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Zitationshilfe: Mühlpfort, Heinrich: Teutsche Gedichte. Bd. 1. Breslau u. a., 1686, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/muehlpfort_gedichte01_1686/325>, abgerufen am 24.11.2024.