habt hätte, was sie selbst nicht seyn konnte, und wodurch ihr eigenes Daseyn ihr verächtlich wurde.
Es ist wohl ein untrügliches Zeichen, daß einer keinen Beruf zum Dichter habe, den bloß eine Empfindung im Allgemeinen zum Dichten veranlaßt, und bei dem nicht die schon bestimmte Scene, die er dichten will, noch eher als diese Empfindung, oder we¬ nigstens zugleich mit der Empfindung da ist. Kurz, wer nicht während der Em¬ pfindung zugleich einen Blick in das gan¬ ze Detaille der Scene werfen kann, der hat nur Empfindung, aber kein Dich¬ tungsvermögen.
Und gewiß ist nichts gefährlicher, als einem solchen täuschenden Hange sich zu überlassen; die warnende Stimme kann nicht früh genug dem Jüngling zurufen, sein Innerstes zu prü¬ fen, ob nicht der Wunsch bei ihm an die Stel¬ le der Kraft tritt, und weil er diese Stelle nie ausfüllen kann, ein ewiges Unbehagen die Strafe verbotenen Genusses bleibt.
habt haͤtte, was ſie ſelbſt nicht ſeyn konnte, und wodurch ihr eigenes Daſeyn ihr veraͤchtlich wurde.
Es iſt wohl ein untruͤgliches Zeichen, daß einer keinen Beruf zum Dichter habe, den bloß eine Empfindung im Allgemeinen zum Dichten veranlaßt, und bei dem nicht die ſchon beſtimmte Scene, die er dichten will, noch eher als dieſe Empfindung, oder we¬ nigſtens zugleich mit der Empfindung da iſt. Kurz, wer nicht waͤhrend der Em¬ pfindung zugleich einen Blick in das gan¬ ze Detaille der Scene werfen kann, der hat nur Empfindung, aber kein Dich¬ tungsvermoͤgen.
Und gewiß iſt nichts gefaͤhrlicher, als einem ſolchen taͤuſchenden Hange ſich zu uͤberlaſſen; die warnende Stimme kann nicht fruͤh genug dem Juͤngling zurufen, ſein Innerſtes zu pruͤ¬ fen, ob nicht der Wunſch bei ihm an die Stel¬ le der Kraft tritt, und weil er dieſe Stelle nie ausfuͤllen kann, ein ewiges Unbehagen die Strafe verbotenen Genuſſes bleibt.
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habt haͤtte, was ſie ſelbſt nicht ſeyn konnte,
und wodurch ihr eigenes Daſeyn ihr veraͤchtlich
wurde.
Es iſt wohl ein untruͤgliches Zeichen, daß
einer keinen Beruf zum Dichter habe, den bloß
eine Empfindung im Allgemeinen zum
Dichten veranlaßt, und bei dem nicht die
ſchon beſtimmte Scene, die er dichten will,
noch eher als dieſe Empfindung, oder we¬
nigſtens zugleich mit der Empfindung da
iſt. Kurz, wer nicht waͤhrend der Em¬
pfindung zugleich einen Blick in das gan¬
ze Detaille der Scene werfen kann, der
hat nur Empfindung, aber kein Dich¬
tungsvermoͤgen.
Und gewiß iſt nichts gefaͤhrlicher, als einem
ſolchen taͤuſchenden Hange ſich zu uͤberlaſſen;
die warnende Stimme kann nicht fruͤh genug
dem Juͤngling zurufen, ſein Innerſtes zu pruͤ¬
fen, ob nicht der Wunſch bei ihm an die Stel¬
le der Kraft tritt, und weil er dieſe Stelle nie
ausfuͤllen kann, ein ewiges Unbehagen die
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Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 4. Berlin, 1790, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser04_1790/172>, abgerufen am 16.02.2025.
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