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Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 2. Berlin, 1786.

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Sie nun meine Mutter, da ich ohne Vater und
Mutter bin, ich will Sie auch so lieb haben, wie
eine Mutter". -- Allein wenn Reiser derglei¬
chen sagen wollte, so war, als ob ihm die Worte
im Munde erstarben; es würde höchst ungeschickt
herausgekommen seyn, wenn er so etwas hätte
sagen wollen. -- Dergleichen zärtliche Ausdrücke
waren nie durch zuvorkommendes, gütiges Be¬
tragen irgend eines Menschen gegen ihn, aus
seinem Munde hervorgelockt worden; seine Zunge
hatte keine Geschmeidigkeit dazu. -- Er konnte
den Rath seiner Base unmöglich befolgen. Wenn
sein Herz voll war, so suchte er schon Ausdrücke,
wo er sie auch fand. Aber die Sprache der
feinen Lebensart hatte er freilich nie reden geler¬
net. -- Was man insinuantes Wesen nennt,
wäre auch bei ihm die kriechendste Schmeichelei
gewesen.

Indes war nun die Zeit herangekommen, wo
Reiser konfirmirt werden, und in der Kirche öf¬
fentlich sein Glaubensbekenntniß ablegen sollte,
-- eine große Nahrung für seine Eitelkeit -- er
dachte sich die versammelten Menschen, sich als
den ersten, unter seinen Mitschülern, der alle

Sie nun meine Mutter, da ich ohne Vater und
Mutter bin, ich will Sie auch ſo lieb haben, wie
eine Mutter“. — Allein wenn Reiſer derglei¬
chen ſagen wollte, ſo war, als ob ihm die Worte
im Munde erſtarben; es wuͤrde hoͤchſt ungeſchickt
herausgekommen ſeyn, wenn er ſo etwas haͤtte
ſagen wollen. — Dergleichen zaͤrtliche Ausdruͤcke
waren nie durch zuvorkommendes, guͤtiges Be¬
tragen irgend eines Menſchen gegen ihn, aus
ſeinem Munde hervorgelockt worden; ſeine Zunge
hatte keine Geſchmeidigkeit dazu. — Er konnte
den Rath ſeiner Baſe unmoͤglich befolgen. Wenn
ſein Herz voll war, ſo ſuchte er ſchon Ausdruͤcke,
wo er ſie auch fand. Aber die Sprache der
feinen Lebensart hatte er freilich nie reden geler¬
net. — Was man inſinuantes Weſen nennt,
waͤre auch bei ihm die kriechendſte Schmeichelei
geweſen.

Indes war nun die Zeit herangekommen, wo
Reiſer konfirmirt werden, und in der Kirche oͤf¬
fentlich ſein Glaubensbekenntniß ablegen ſollte,
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[26/0036] Sie nun meine Mutter, da ich ohne Vater und Mutter bin, ich will Sie auch ſo lieb haben, wie eine Mutter“. — Allein wenn Reiſer derglei¬ chen ſagen wollte, ſo war, als ob ihm die Worte im Munde erſtarben; es wuͤrde hoͤchſt ungeſchickt herausgekommen ſeyn, wenn er ſo etwas haͤtte ſagen wollen. — Dergleichen zaͤrtliche Ausdruͤcke waren nie durch zuvorkommendes, guͤtiges Be¬ tragen irgend eines Menſchen gegen ihn, aus ſeinem Munde hervorgelockt worden; ſeine Zunge hatte keine Geſchmeidigkeit dazu. — Er konnte den Rath ſeiner Baſe unmoͤglich befolgen. Wenn ſein Herz voll war, ſo ſuchte er ſchon Ausdruͤcke, wo er ſie auch fand. Aber die Sprache der feinen Lebensart hatte er freilich nie reden geler¬ net. — Was man inſinuantes Weſen nennt, waͤre auch bei ihm die kriechendſte Schmeichelei geweſen. Indes war nun die Zeit herangekommen, wo Reiſer konfirmirt werden, und in der Kirche oͤf¬ fentlich ſein Glaubensbekenntniß ablegen ſollte, — eine große Nahrung fuͤr ſeine Eitelkeit — er dachte ſich die verſammelten Menſchen, ſich als den erſten, unter ſeinen Mitſchuͤlern, der alle

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 2. Berlin, 1786, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser02_1786/36>, abgerufen am 28.03.2024.