Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 2. Berlin, 1786.

Bild:
<< vorherige Seite

mit den angenehmsten Hoffnungen, ersetzte ihm
reichlich allen Kummer, und unverdiente Demü¬
thigungen, die er ein ganzes Jahr hindurch erlit¬
ten hatte.

So nahe, wie seine Mutter, nahm doch
niemand in der Welt an seinem Schicksal Theil --
so oft er sich des Abends zu Bette legte, sprach
sie das Gott walte über ihn, und schlug über
seine Stirne das Kreuz dazu, wie sie ehemals
gethan hatte, damit er sicher schlafen sollte, und
kein Abend und kein Morgen verging, wo sie
ihn, auch in seiner Abwesenheit nicht mit in ihr
Gebet einschloß. -- Mit Wemuth nahm Rei¬
ser Abschied von seinen Eltern, und da er die
Thürme von H. . . wieder sahe, so beklemten
traurige Ahndungen sein Herz.

Den andern Tag nach seiner Zurückkunft
wurde er von dem Direktor zu der Klassenverse¬
tzung geprüft, und da er aus des Cicero Buche
von den Pflichten etwas aus dem lateinischen ins
deutsche übersetzen sollte, so fügte es sich daß er in
dem Exemplar, das ihm der Direktor gab, un¬
glücklicherweise ein Blatt mit solcher Ungeschick¬

mit den angenehmſten Hoffnungen, erſetzte ihm
reichlich allen Kummer, und unverdiente Demuͤ¬
thigungen, die er ein ganzes Jahr hindurch erlit¬
ten hatte.

So nahe, wie ſeine Mutter, nahm doch
niemand in der Welt an ſeinem Schickſal Theil —
ſo oft er ſich des Abends zu Bette legte, ſprach
ſie das Gott walte uͤber ihn, und ſchlug uͤber
ſeine Stirne das Kreuz dazu, wie ſie ehemals
gethan hatte, damit er ſicher ſchlafen ſollte, und
kein Abend und kein Morgen verging, wo ſie
ihn, auch in ſeiner Abweſenheit nicht mit in ihr
Gebet einſchloß. — Mit Wemuth nahm Rei¬
ſer Abſchied von ſeinen Eltern, und da er die
Thuͤrme von H. . . wieder ſahe, ſo beklemten
traurige Ahndungen ſein Herz.

Den andern Tag nach ſeiner Zuruͤckkunft
wurde er von dem Direktor zu der Klaſſenverſe¬
tzung gepruͤft, und da er aus des Cicero Buche
von den Pflichten etwas aus dem lateiniſchen ins
deutſche uͤberſetzen ſollte, ſo fuͤgte es ſich daß er in
dem Exemplar, das ihm der Direktor gab, un¬
gluͤcklicherweiſe ein Blatt mit ſolcher Ungeſchick¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0116" n="106"/>
mit den angenehm&#x017F;ten Hoffnungen, er&#x017F;etzte ihm<lb/>
reichlich allen Kummer, und unverdiente Demu&#x0364;¬<lb/>
thigungen, die er ein ganzes Jahr hindurch erlit¬<lb/>
ten hatte.</p><lb/>
      <p>So nahe, wie &#x017F;eine Mutter, nahm doch<lb/>
niemand in der Welt an &#x017F;einem Schick&#x017F;al Theil &#x2014;<lb/>
&#x017F;o oft er &#x017F;ich des Abends zu Bette legte, &#x017F;prach<lb/>
&#x017F;ie das <hi rendition="#fr">Gott walte</hi> u&#x0364;ber ihn, und &#x017F;chlug u&#x0364;ber<lb/>
&#x017F;eine Stirne das Kreuz dazu, wie &#x017F;ie ehemals<lb/>
gethan hatte, damit er &#x017F;icher &#x017F;chlafen &#x017F;ollte, und<lb/>
kein Abend und kein Morgen verging, wo &#x017F;ie<lb/>
ihn, auch in &#x017F;einer Abwe&#x017F;enheit nicht mit in ihr<lb/>
Gebet ein&#x017F;chloß. &#x2014; Mit Wemuth nahm Rei¬<lb/>
&#x017F;er Ab&#x017F;chied von &#x017F;einen Eltern, und da er die<lb/>
Thu&#x0364;rme von H. . . wieder &#x017F;ahe, &#x017F;o beklemten<lb/>
traurige Ahndungen &#x017F;ein Herz.</p><lb/>
      <p>Den andern Tag nach &#x017F;einer Zuru&#x0364;ckkunft<lb/>
wurde er von dem Direktor zu der Kla&#x017F;&#x017F;enver&#x017F;<lb/>
tzung gepru&#x0364;ft, und da er aus des Cicero Buche<lb/>
von den Pflichten etwas aus dem lateini&#x017F;chen ins<lb/>
deut&#x017F;che u&#x0364;ber&#x017F;etzen &#x017F;ollte, &#x017F;o fu&#x0364;gte es &#x017F;ich daß er in<lb/>
dem Exemplar, das ihm der Direktor gab, un¬<lb/><choice><sic>glu&#x0364;chlicherwei&#x017F;e</sic><corr>glu&#x0364;cklicherwei&#x017F;e</corr></choice> ein Blatt mit &#x017F;olcher Unge&#x017F;chick¬<lb/></p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[106/0116] mit den angenehmſten Hoffnungen, erſetzte ihm reichlich allen Kummer, und unverdiente Demuͤ¬ thigungen, die er ein ganzes Jahr hindurch erlit¬ ten hatte. So nahe, wie ſeine Mutter, nahm doch niemand in der Welt an ſeinem Schickſal Theil — ſo oft er ſich des Abends zu Bette legte, ſprach ſie das Gott walte uͤber ihn, und ſchlug uͤber ſeine Stirne das Kreuz dazu, wie ſie ehemals gethan hatte, damit er ſicher ſchlafen ſollte, und kein Abend und kein Morgen verging, wo ſie ihn, auch in ſeiner Abweſenheit nicht mit in ihr Gebet einſchloß. — Mit Wemuth nahm Rei¬ ſer Abſchied von ſeinen Eltern, und da er die Thuͤrme von H. . . wieder ſahe, ſo beklemten traurige Ahndungen ſein Herz. Den andern Tag nach ſeiner Zuruͤckkunft wurde er von dem Direktor zu der Klaſſenverſe¬ tzung gepruͤft, und da er aus des Cicero Buche von den Pflichten etwas aus dem lateiniſchen ins deutſche uͤberſetzen ſollte, ſo fuͤgte es ſich daß er in dem Exemplar, das ihm der Direktor gab, un¬ gluͤcklicherweiſe ein Blatt mit ſolcher Ungeſchick¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser02_1786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser02_1786/116
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 2. Berlin, 1786, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser02_1786/116>, abgerufen am 30.04.2024.