Räthsel auf: was für ein Thier am Morgen auf vier, am Tage auf zwei, am Abend auf drei Füßen gehe? Wer dieß Räthsel nicht errieth, den stürzte sie von dem Felsen herab.
Oedipus kam und deutete das Räthsel: der Mensch als Kind am frühesten Morgen seines Le- bens, wälze sich auf Händen und Füßen fort; am langen Tage des Lebens, wo noch die Kraft in seinen Gliedern wohnt, wandle er aufrecht auf zwei Füßen; am Abend, wenn das Alter ihn überschleicht, gehe er gebückt am Stabe, und setze auf die Weise den dritten Fuß sich an.
Nun tödtete Oedipus die Sphinx, oder, nach einer andern bedeutendern Sage, stürzte sie sich vom Felsen herab, sobald er das Räthsel errathen hatte. --
Da nun Lajus todt war, ohne daß man sei- nen Mörder wußte; so hatte man demjenigen, der das Räthsel der Sphinx auflösen, und von diesem Ungeheuer das Land befreien würde, ver- heißen, daß die Königin sich mit ihm vermählen, und ihm die Herrschaft über Theben zum Braut- schatz bringen solle.
Dem Oedipus ward nun dieß von vielen Tau- senden beneidete anscheinende Glück zu Theil, wo- mit der schreckliche Orakelspruch ganz und ohne Schonung in Erfüllung ging; indem er sich mit Jokasten, der Königin, vermählte, nahm er
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Raͤthſel auf: was fuͤr ein Thier am Morgen auf vier, am Tage auf zwei, am Abend auf drei Fuͤßen gehe? Wer dieß Raͤthſel nicht errieth, den ſtuͤrzte ſie von dem Felſen herab.
Oedipus kam und deutete das Raͤthſel: der Menſch als Kind am fruͤheſten Morgen ſeines Le- bens, waͤlze ſich auf Haͤnden und Fuͤßen fort; am langen Tage des Lebens, wo noch die Kraft in ſeinen Gliedern wohnt, wandle er aufrecht auf zwei Fuͤßen; am Abend, wenn das Alter ihn uͤberſchleicht, gehe er gebuͤckt am Stabe, und ſetze auf die Weiſe den dritten Fuß ſich an.
Nun toͤdtete Oedipus die Sphinx, oder, nach einer andern bedeutendern Sage, ſtuͤrzte ſie ſich vom Felſen herab, ſobald er das Raͤthſel errathen hatte. —
Da nun Lajus todt war, ohne daß man ſei- nen Moͤrder wußte; ſo hatte man demjenigen, der das Raͤthſel der Sphinx aufloͤſen, und von dieſem Ungeheuer das Land befreien wuͤrde, ver- heißen, daß die Koͤnigin ſich mit ihm vermaͤhlen, und ihm die Herrſchaft uͤber Theben zum Braut- ſchatz bringen ſolle.
Dem Oedipus ward nun dieß von vielen Tau- ſenden beneidete anſcheinende Gluͤck zu Theil, wo- mit der ſchreckliche Orakelſpruch ganz und ohne Schonung in Erfuͤllung ging; indem er ſich mit Jokaſten, der Koͤnigin, vermaͤhlte, nahm er
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Raͤthſel auf: was fuͤr ein Thier am Morgen auf
vier, am Tage auf zwei, am Abend auf drei Fuͤßen
gehe? Wer dieß Raͤthſel nicht errieth, den ſtuͤrzte
ſie von dem Felſen herab.
Oedipus kam und deutete das Raͤthſel: der
Menſch als Kind am fruͤheſten Morgen ſeines Le-
bens, waͤlze ſich auf Haͤnden und Fuͤßen fort;
am langen Tage des Lebens, wo noch die Kraft
in ſeinen Gliedern wohnt, wandle er aufrecht auf
zwei Fuͤßen; am Abend, wenn das Alter ihn
uͤberſchleicht, gehe er gebuͤckt am Stabe, und ſetze
auf die Weiſe den dritten Fuß ſich an.
Nun toͤdtete Oedipus die Sphinx, oder, nach
einer andern bedeutendern Sage, ſtuͤrzte ſie ſich
vom Felſen herab, ſobald er das Raͤthſel errathen
hatte. —
Da nun Lajus todt war, ohne daß man ſei-
nen Moͤrder wußte; ſo hatte man demjenigen,
der das Raͤthſel der Sphinx aufloͤſen, und von
dieſem Ungeheuer das Land befreien wuͤrde, ver-
heißen, daß die Koͤnigin ſich mit ihm vermaͤhlen,
und ihm die Herrſchaft uͤber Theben zum Braut-
ſchatz bringen ſolle.
Dem Oedipus ward nun dieß von vielen Tau-
ſenden beneidete anſcheinende Gluͤck zu Theil, wo-
mit der ſchreckliche Orakelſpruch ganz und ohne
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Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/423>, abgerufen am 22.12.2024.
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