unwissend seine eigne Mutter zum Weibe, nachdem er seinen Vater erschlagen hatte.
Eine Weile Lebensgenuß verstattete ihm noch sein feindseliges Geschick, indem es vor alle diese Gräuel einen Vorhang zog. Oedipus erzeugte mit der Jokaste zwei Söhne, Eteokles und Polynices; und zwei Töchter Antigone und Ismene -- eben so unwissend über sein eignes Schicksal, als über das künftige Schicksal seiner Kinder.
Die Tage dieser glücklichen Unwissenheit soll- ten nicht lange mehr dauern. Ueber Theben kam eine verwüstende Pest. Oedipus selber that den Vorschlag, das Orakel zu befragen, ob etwa irgend ein einzelner Mann den Zorn der Götter auf sich geladen? und ob das ganze Land vielleicht die Schuld eines Einzelnen büßen müsse? --
Man folgte seinem Rath, und der furchtbare Ausspruch traf ihn selber. -- Er ruhte nicht nachzuforschen, bis er die Wahrheit ans Licht bringen, oder die Verläumdung zu Schanden ma- chen würde; und mit jeder Nachforschung entwi- ckelte sich immer klärer die gräßliche Geschichte.
Als endlich nun kein Zweifel mehr übrig war, und Oedipus mit schrecklicher Gewißheit, der Blutschande und des Vatermords sich schuldig fand, so vermochte er nicht länger des Tages Glanz zu tragen, und blendete sich selber. -- Die un-
unwiſſend ſeine eigne Mutter zum Weibe, nachdem er ſeinen Vater erſchlagen hatte.
Eine Weile Lebensgenuß verſtattete ihm noch ſein feindſeliges Geſchick, indem es vor alle dieſe Graͤuel einen Vorhang zog. Oedipus erzeugte mit der Jokaſte zwei Soͤhne, Eteokles und Polynices; und zwei Toͤchter Antigone und Ismene — eben ſo unwiſſend uͤber ſein eignes Schickſal, als uͤber das kuͤnftige Schickſal ſeiner Kinder.
Die Tage dieſer gluͤcklichen Unwiſſenheit ſoll- ten nicht lange mehr dauern. Ueber Theben kam eine verwuͤſtende Peſt. Oedipus ſelber that den Vorſchlag, das Orakel zu befragen, ob etwa irgend ein einzelner Mann den Zorn der Goͤtter auf ſich geladen? und ob das ganze Land vielleicht die Schuld eines Einzelnen buͤßen muͤſſe? —
Man folgte ſeinem Rath, und der furchtbare Ausſpruch traf ihn ſelber. — Er ruhte nicht nachzuforſchen, bis er die Wahrheit ans Licht bringen, oder die Verlaͤumdung zu Schanden ma- chen wuͤrde; und mit jeder Nachforſchung entwi- ckelte ſich immer klaͤrer die graͤßliche Geſchichte.
Als endlich nun kein Zweifel mehr uͤbrig war, und Oedipus mit ſchrecklicher Gewißheit, der Blutſchande und des Vatermords ſich ſchuldig fand, ſo vermochte er nicht laͤnger des Tages Glanz zu tragen, und blendete ſich ſelber. — Die un-
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unwiſſend ſeine eigne Mutter zum Weibe,
nachdem er ſeinen Vater erſchlagen hatte.
Eine Weile Lebensgenuß verſtattete ihm noch
ſein feindſeliges Geſchick, indem es vor alle dieſe
Graͤuel einen Vorhang zog. Oedipus erzeugte
mit der Jokaſte zwei Soͤhne, Eteokles und
Polynices; und zwei Toͤchter Antigone und
Ismene — eben ſo unwiſſend uͤber ſein eignes
Schickſal, als uͤber das kuͤnftige Schickſal ſeiner
Kinder.
Die Tage dieſer gluͤcklichen Unwiſſenheit ſoll-
ten nicht lange mehr dauern. Ueber Theben kam
eine verwuͤſtende Peſt. Oedipus ſelber that den
Vorſchlag, das Orakel zu befragen, ob etwa irgend
ein einzelner Mann den Zorn der Goͤtter auf ſich
geladen? und ob das ganze Land vielleicht die
Schuld eines Einzelnen buͤßen muͤſſe? —
Man folgte ſeinem Rath, und der furchtbare
Ausſpruch traf ihn ſelber. — Er ruhte nicht
nachzuforſchen, bis er die Wahrheit ans Licht
bringen, oder die Verlaͤumdung zu Schanden ma-
chen wuͤrde; und mit jeder Nachforſchung entwi-
ckelte ſich immer klaͤrer die graͤßliche Geſchichte.
Als endlich nun kein Zweifel mehr uͤbrig war,
und Oedipus mit ſchrecklicher Gewißheit, der
Blutſchande und des Vatermords ſich ſchuldig
fand, ſo vermochte er nicht laͤnger des Tages Glanz
zu tragen, und blendete ſich ſelber. — Die un-
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Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/424>, abgerufen am 22.12.2024.
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