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Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791.

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gleich mächtig, sich die mehrste Zeit einander im schö-
nen Gleichgewicht. -- Heldenruhm, Triumphe,
frohlockende Gesänge, und hohe Lebensfreuden, wa-
ren im immerwährenden Gefolge: durch diesen süßen
Wechsel wurde das Gemüth stets offen und frei er-
halten; geheime Wünsche und Gedanken durften
noch unter keiner Larve von falscher Bescheidenheit
und Demuth sich verstecken. --

Sobald man ein Bachanal sich ohne Ueppig-
keit denken wollte, würde es aufhören, ein Ge-
genstand der Kunst zu seyn; denn gerade die
Wildheit, das Taumeln, das Schwingen des
Thyrsusstabes, die Ausgelassenheit, der Muth-
wille, macht das Schöne bei diesen frohen Wesen
aus, die nur in der Einbildungskraft ihr Daseyn
hatten, und bei den Festen der Alten in einer
Art von Schauspiel dargestellt, den düstern Ernst
verscheuchten.

Auf den Marmorsärgen der Alten findet man
häufig Bachanale abgebildet. -- Um selbst noch
hier den Ernst mit frohem Lächeln, die Trauer
mit der Fröhlichkeit zu vermählen, ist gerade der
Punkt gewählt, wo Tod und Leben auf dem Gip-
fel der Lust am nächsten aneinander grenzen. --
Denn der höchste Genuß grenzt an das Tragi-
sche, -- er droht Verderben und Untergang, -- das-
selbe, was die Menschengattung, mit jugendlichem
Feuer beseelet, untergräbt und zerstört sie auch. --

gleich maͤchtig, ſich die mehrſte Zeit einander im ſchoͤ-
nen Gleichgewicht. — Heldenruhm, Triumphe,
frohlockende Geſaͤnge, und hohe Lebensfreuden, wa-
ren im immerwaͤhrenden Gefolge: durch dieſen ſuͤßen
Wechſel wurde das Gemuͤth ſtets offen und frei er-
halten; geheime Wuͤnſche und Gedanken durften
noch unter keiner Larve von falſcher Beſcheidenheit
und Demuth ſich verſtecken. —

Sobald man ein Bachanal ſich ohne Ueppig-
keit denken wollte, wuͤrde es aufhoͤren, ein Ge-
genſtand der Kunſt zu ſeyn; denn gerade die
Wildheit, das Taumeln, das Schwingen des
Thyrſusſtabes, die Ausgelaſſenheit, der Muth-
wille, macht das Schoͤne bei dieſen frohen Weſen
aus, die nur in der Einbildungskraft ihr Daſeyn
hatten, und bei den Feſten der Alten in einer
Art von Schauſpiel dargeſtellt, den duͤſtern Ernſt
verſcheuchten.

Auf den Marmorſaͤrgen der Alten findet man
haͤufig Bachanale abgebildet. — Um ſelbſt noch
hier den Ernſt mit frohem Laͤcheln, die Trauer
mit der Froͤhlichkeit zu vermaͤhlen, iſt gerade der
Punkt gewaͤhlt, wo Tod und Leben auf dem Gip-
fel der Luſt am naͤchſten aneinander grenzen. —
Denn der hoͤchſte Genuß grenzt an das Tragi-
ſche, — er droht Verderben und Untergang, — das-
ſelbe, was die Menſchengattung, mit jugendlichem
Feuer beſeelet, untergraͤbt und zerſtoͤrt ſie auch. —

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[176/0222] gleich maͤchtig, ſich die mehrſte Zeit einander im ſchoͤ- nen Gleichgewicht. — Heldenruhm, Triumphe, frohlockende Geſaͤnge, und hohe Lebensfreuden, wa- ren im immerwaͤhrenden Gefolge: durch dieſen ſuͤßen Wechſel wurde das Gemuͤth ſtets offen und frei er- halten; geheime Wuͤnſche und Gedanken durften noch unter keiner Larve von falſcher Beſcheidenheit und Demuth ſich verſtecken. — Sobald man ein Bachanal ſich ohne Ueppig- keit denken wollte, wuͤrde es aufhoͤren, ein Ge- genſtand der Kunſt zu ſeyn; denn gerade die Wildheit, das Taumeln, das Schwingen des Thyrſusſtabes, die Ausgelaſſenheit, der Muth- wille, macht das Schoͤne bei dieſen frohen Weſen aus, die nur in der Einbildungskraft ihr Daſeyn hatten, und bei den Feſten der Alten in einer Art von Schauſpiel dargeſtellt, den duͤſtern Ernſt verſcheuchten. Auf den Marmorſaͤrgen der Alten findet man haͤufig Bachanale abgebildet. — Um ſelbſt noch hier den Ernſt mit frohem Laͤcheln, die Trauer mit der Froͤhlichkeit zu vermaͤhlen, iſt gerade der Punkt gewaͤhlt, wo Tod und Leben auf dem Gip- fel der Luſt am naͤchſten aneinander grenzen. — Denn der hoͤchſte Genuß grenzt an das Tragi- ſche, — er droht Verderben und Untergang, — das- ſelbe, was die Menſchengattung, mit jugendlichem Feuer beſeelet, untergraͤbt und zerſtoͤrt ſie auch. —

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/222>, abgerufen am 27.04.2024.