Im Tempel der großen Mutter in Pessinunt war es ein kleiner schwarzgrauer, unebener, spitziger Stein, an welchem die Idee von Gestalt und Form am wenigsten haften konnte, der die verehrte Mutter der Dinge bezeichnete. --
Es war derselbe Begriff von diesem hohen Wesen, das sich auch in die Gestalt der ägypti- schen Isis hüllte, auf deren Tempel geschrieben stand: ich bin alles, was da ist, was da war, was da seyn wird, und meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt.
So verehrt nun diese große Göttin selber war, so verächtlich waren größtentheils ihre Prie- ster, an welchen sie dafür, daß sie sich ihr gleich- sam zu sehr nähern wollten, eine furchtbare Rache nahm. --
Die Priester der Cybele entmannten in ihrer fanatischen Wuth sich selber, und geißelten und zerfleischten sich. -- Sie liefen in wilder Begei- sterung mit fliegendem Haar umher, das Haupt in den Nacken und von einer Seite zur andern werfend. -- Die hohe Göttin sahe den Trupp entmannter Weichlinge gleichsam triumphierend in ihrem Gefolge. --
Es war die üppigste, ausschweifendste, sich selbst überströmende und in zerfleischende Wuth ausartende Lebensfülle, welche den Zug der
Im Tempel der großen Mutter in Peſſinunt war es ein kleiner ſchwarzgrauer, unebener, ſpitziger Stein, an welchem die Idee von Geſtalt und Form am wenigſten haften konnte, der die verehrte Mutter der Dinge bezeichnete. —
Es war derſelbe Begriff von dieſem hohen Weſen, das ſich auch in die Geſtalt der aͤgypti- ſchen Iſis huͤllte, auf deren Tempel geſchrieben ſtand: ich bin alles, was da iſt, was da war, was da ſeyn wird, und meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt.
So verehrt nun dieſe große Goͤttin ſelber war, ſo veraͤchtlich waren groͤßtentheils ihre Prie- ſter, an welchen ſie dafuͤr, daß ſie ſich ihr gleich- ſam zu ſehr naͤhern wollten, eine furchtbare Rache nahm. —
Die Prieſter der Cybele entmannten in ihrer fanatiſchen Wuth ſich ſelber, und geißelten und zerfleiſchten ſich. — Sie liefen in wilder Begei- ſterung mit fliegendem Haar umher, das Haupt in den Nacken und von einer Seite zur andern werfend. — Die hohe Goͤttin ſahe den Trupp entmannter Weichlinge gleichſam triumphierend in ihrem Gefolge. —
Es war die uͤppigſte, ausſchweifendſte, ſich ſelbſt uͤberſtroͤmende und in zerfleiſchende Wuth ausartende Lebensfuͤlle, welche den Zug der
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Im Tempel der großen Mutter in Peſſinunt
war es ein kleiner ſchwarzgrauer, unebener, ſpitziger
Stein, an welchem die Idee von Geſtalt und
Form am wenigſten haften konnte, der die
verehrte Mutter der Dinge bezeichnete. —
Es war derſelbe Begriff von dieſem hohen
Weſen, das ſich auch in die Geſtalt der aͤgypti-
ſchen Iſis huͤllte, auf deren Tempel geſchrieben
ſtand: ich bin alles, was da iſt, was da
war, was da ſeyn wird, und meinen
Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt.
So verehrt nun dieſe große Goͤttin ſelber
war, ſo veraͤchtlich waren groͤßtentheils ihre Prie-
ſter, an welchen ſie dafuͤr, daß ſie ſich ihr gleich-
ſam zu ſehr naͤhern wollten, eine furchtbare
Rache nahm. —
Die Prieſter der Cybele entmannten in ihrer
fanatiſchen Wuth ſich ſelber, und geißelten und
zerfleiſchten ſich. — Sie liefen in wilder Begei-
ſterung mit fliegendem Haar umher, das Haupt
in den Nacken und von einer Seite zur andern
werfend. — Die hohe Goͤttin ſahe den Trupp
entmannter Weichlinge gleichſam triumphierend
in ihrem Gefolge. —
Es war die uͤppigſte, ausſchweifendſte, ſich
ſelbſt uͤberſtroͤmende und in zerfleiſchende Wuth
ausartende Lebensfuͤlle, welche den Zug der
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Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/212>, abgerufen am 24.11.2024.
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