Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 3. Berlin, 1792.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0059" n="59"/><lb/> heit und ein unempfaͤngliches Herz fuͤr Liebe und Freude Gottes! — Was heißt denn <hi rendition="#b">schoͤn schreiben</hi> nach der gemeinen Sprache des Lebens? — einen Buchstaben wie den andern hinsetzen, in eben der Proportion, Weite, Hoͤhe, Dicke, eine Linie so horizontal wie die andere, und so abgemessen distant von einander und schoͤne Zuͤge, d.h. die von dem festen, harten Nerven ihres Schreibers zeigen. Koͤnnte ich doch einen Aufwaͤrter eines Naturalienkabinets hinters Ohr schlagen, wenn er mir neben einer Wallfischribbe auch, wie er sagt, eine schoͤne Handschrift zeigt, d.h. eine Reihe von perpendikulaͤren, gleich starken, gleich hohen, gleich zugespitzten, eingepfaͤhlten da stehenden Buchstaben, die irgend ein Waisenknabe, der mehr Talent zum Schneider, Schuster, Baumeister, als zum Gelehrten hatte, dem Papiere aufgemahlt hat. Laßt einen solchen Knaben, der so schoͤn schreibt, daß es wie gedruckt aussieht, lieber ein Handwerk lernen; denn hier ist das Loch, wo allenfalls mit einer mechanischen festen Hand alles gethan ist: — um Gottes Willen aber keinen Gelehrten, wenn nicht ein Pedant in der Welt mehr werden soll, ein Systemgelehrter, Vielwisser, der alles seinem Leisten anpassen will, den er sich in seinem Kopfe, der diesem gedrehten Holze nicht viel ungleicher ist, gemacht hat. Ein Gelehrter muß, wenn auch nicht Genie, doch genieartig und mehr als Handwerker seyn. — Schoͤne Handschrift nenne ich, wo ich Ausdruck<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [59/0059]
heit und ein unempfaͤngliches Herz fuͤr Liebe und Freude Gottes! — Was heißt denn schoͤn schreiben nach der gemeinen Sprache des Lebens? — einen Buchstaben wie den andern hinsetzen, in eben der Proportion, Weite, Hoͤhe, Dicke, eine Linie so horizontal wie die andere, und so abgemessen distant von einander und schoͤne Zuͤge, d.h. die von dem festen, harten Nerven ihres Schreibers zeigen. Koͤnnte ich doch einen Aufwaͤrter eines Naturalienkabinets hinters Ohr schlagen, wenn er mir neben einer Wallfischribbe auch, wie er sagt, eine schoͤne Handschrift zeigt, d.h. eine Reihe von perpendikulaͤren, gleich starken, gleich hohen, gleich zugespitzten, eingepfaͤhlten da stehenden Buchstaben, die irgend ein Waisenknabe, der mehr Talent zum Schneider, Schuster, Baumeister, als zum Gelehrten hatte, dem Papiere aufgemahlt hat. Laßt einen solchen Knaben, der so schoͤn schreibt, daß es wie gedruckt aussieht, lieber ein Handwerk lernen; denn hier ist das Loch, wo allenfalls mit einer mechanischen festen Hand alles gethan ist: — um Gottes Willen aber keinen Gelehrten, wenn nicht ein Pedant in der Welt mehr werden soll, ein Systemgelehrter, Vielwisser, der alles seinem Leisten anpassen will, den er sich in seinem Kopfe, der diesem gedrehten Holze nicht viel ungleicher ist, gemacht hat. Ein Gelehrter muß, wenn auch nicht Genie, doch genieartig und mehr als Handwerker seyn. — Schoͤne Handschrift nenne ich, wo ich Ausdruck
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(2015-06-09T11:00:00Z)
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Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat
(2015-06-09T11:00:00Z)
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