Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 3. Berlin, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite


von dem Genie ihres Schreibers, seiner Empfänglichkeit für Schönheit und Empfindung finde: -- freilich ist just diese nach der Sprache des Lebens garstig geschrieben, unordentlich, die Buchstaben untereinander liegend, und die Züge schief konturirt. Solche Handschriften würde ich auf ein Naturalienkabinet thun, neben den seltnen Produkten des menschlichen Geistes, wenn diese dort zu finden wären. Jch habe viel dergleichen Schönschreiber gesehen und gekannt: der eine hatte schon in seiner Kindheit wegen der schön gemahlten Buchstaben die Aufmerksamkeit des Pfarrers auf sich gezogen, der ihn eben deswegen hatte wollen studieren lassen. Jetzt ist dieser Schönschreiber Schneider, ein genauer, fleißiger, akkurater und gottesfürchtiger Handwerker. -- Wer Verstand hat, dem giebt auch Gott Amt, der Mensch trägt es gleichsam vor sich her, was er einst werden soll, sagt Lavater irgendwo. -- Die Natur wußte besser dem Mahler dieser Buchstaben Amt zu geben, als sein Pfarrer. Ein anderer ist Geistlicher, der dem Jnspektor seiner Diöceß Gedichte wie gedruckt geschrieben überreicht: -- ein Mann, der seine hebräische Bibel jährlich ein paarmahl durchliest, und sie schon funfzigmahl durchgelesen hat -- nicht aber empfunden, philosophisch nach dem Geiste des Morgenlandes studiert, sondern analysirt, die Punkte gezählet, falsche Accente angemerket und grammatische Lesearten verglichen. Ein dritter war ein jun-


von dem Genie ihres Schreibers, seiner Empfaͤnglichkeit fuͤr Schoͤnheit und Empfindung finde: — freilich ist just diese nach der Sprache des Lebens garstig geschrieben, unordentlich, die Buchstaben untereinander liegend, und die Zuͤge schief konturirt. Solche Handschriften wuͤrde ich auf ein Naturalienkabinet thun, neben den seltnen Produkten des menschlichen Geistes, wenn diese dort zu finden waͤren. Jch habe viel dergleichen Schoͤnschreiber gesehen und gekannt: der eine hatte schon in seiner Kindheit wegen der schoͤn gemahlten Buchstaben die Aufmerksamkeit des Pfarrers auf sich gezogen, der ihn eben deswegen hatte wollen studieren lassen. Jetzt ist dieser Schoͤnschreiber Schneider, ein genauer, fleißiger, akkurater und gottesfuͤrchtiger Handwerker. — Wer Verstand hat, dem giebt auch Gott Amt, der Mensch traͤgt es gleichsam vor sich her, was er einst werden soll, sagt Lavater irgendwo. — Die Natur wußte besser dem Mahler dieser Buchstaben Amt zu geben, als sein Pfarrer. Ein anderer ist Geistlicher, der dem Jnspektor seiner Dioͤceß Gedichte wie gedruckt geschrieben uͤberreicht: — ein Mann, der seine hebraͤische Bibel jaͤhrlich ein paarmahl durchliest, und sie schon funfzigmahl durchgelesen hat — nicht aber empfunden, philosophisch nach dem Geiste des Morgenlandes studiert, sondern analysirt, die Punkte gezaͤhlet, falsche Accente angemerket und grammatische Lesearten verglichen. Ein dritter war ein jun-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0060" n="60"/><lb/>
von dem                         Genie ihres Schreibers, seiner Empfa&#x0364;nglichkeit fu&#x0364;r Scho&#x0364;nheit und Empfindung                         finde: &#x2014; freilich ist just diese nach der Sprache des Lebens garstig                         geschrieben, unordentlich, die Buchstaben untereinander liegend, und die                         Zu&#x0364;ge schief konturirt. Solche Handschriften wu&#x0364;rde ich auf ein                         Naturalienkabinet thun, neben den seltnen Produkten des menschlichen                         Geistes, wenn diese dort zu finden wa&#x0364;ren. Jch habe viel dergleichen                         Scho&#x0364;nschreiber gesehen und gekannt: der eine hatte schon in seiner Kindheit                         wegen der scho&#x0364;n gemahlten Buchstaben die Aufmerksamkeit des Pfarrers auf                         sich gezogen, der ihn eben deswegen hatte wollen studieren lassen. Jetzt ist                         dieser Scho&#x0364;nschreiber Schneider, ein genauer, fleißiger, akkurater und                         gottesfu&#x0364;rchtiger Handwerker. &#x2014; Wer Verstand hat, dem giebt auch Gott Amt,                         der Mensch tra&#x0364;gt es gleichsam vor sich her, was er einst werden soll, sagt <hi rendition="#b"><persName ref="#ref0027"><note type="editorial">Lavater, Johann Caspar</note>Lavater</persName></hi> irgendwo. &#x2014; Die Natur wußte besser dem                         Mahler dieser Buchstaben Amt zu geben, als sein Pfarrer. Ein anderer ist                         Geistlicher, der dem Jnspektor seiner Dio&#x0364;ceß Gedichte wie gedruckt                         geschrieben u&#x0364;berreicht: &#x2014; ein Mann, der seine hebra&#x0364;ische Bibel ja&#x0364;hrlich ein                         paarmahl durchliest, und sie schon funfzigmahl durchgelesen hat &#x2014; nicht aber                         empfunden, philosophisch nach dem Geiste des Morgenlandes studiert, sondern                         analysirt, die Punkte geza&#x0364;hlet, falsche Accente angemerket und grammatische                         Lesearten verglichen. Ein dritter war ein jun-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[60/0060] von dem Genie ihres Schreibers, seiner Empfaͤnglichkeit fuͤr Schoͤnheit und Empfindung finde: — freilich ist just diese nach der Sprache des Lebens garstig geschrieben, unordentlich, die Buchstaben untereinander liegend, und die Zuͤge schief konturirt. Solche Handschriften wuͤrde ich auf ein Naturalienkabinet thun, neben den seltnen Produkten des menschlichen Geistes, wenn diese dort zu finden waͤren. Jch habe viel dergleichen Schoͤnschreiber gesehen und gekannt: der eine hatte schon in seiner Kindheit wegen der schoͤn gemahlten Buchstaben die Aufmerksamkeit des Pfarrers auf sich gezogen, der ihn eben deswegen hatte wollen studieren lassen. Jetzt ist dieser Schoͤnschreiber Schneider, ein genauer, fleißiger, akkurater und gottesfuͤrchtiger Handwerker. — Wer Verstand hat, dem giebt auch Gott Amt, der Mensch traͤgt es gleichsam vor sich her, was er einst werden soll, sagt Lavater irgendwo. — Die Natur wußte besser dem Mahler dieser Buchstaben Amt zu geben, als sein Pfarrer. Ein anderer ist Geistlicher, der dem Jnspektor seiner Dioͤceß Gedichte wie gedruckt geschrieben uͤberreicht: — ein Mann, der seine hebraͤische Bibel jaͤhrlich ein paarmahl durchliest, und sie schon funfzigmahl durchgelesen hat — nicht aber empfunden, philosophisch nach dem Geiste des Morgenlandes studiert, sondern analysirt, die Punkte gezaͤhlet, falsche Accente angemerket und grammatische Lesearten verglichen. Ein dritter war ein jun-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0903_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0903_1792/60
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 3. Berlin, 1792, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0903_1792/60>, abgerufen am 17.05.2024.