Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 1. Berlin, 1792.5. Fragment aus des Herrn Professor ![]() ![]() Die willkürlich sowohl als unwillkürlich auf einen Gegenstand geheftete Aufmerksamkeit unterdrückt oft das Gefühl des heftigsten Schmerzes, und mit diesem das Fieber und dessen übrige widernatürliche Folgen. Man weiß, daß ein italiänischer Missethäter, der durch die grausamste Folter nicht zum Geständniß gebracht werden konnte, und sie ohne die geringste Verzuckung aushielt, während derselben immer rief: io ti veddo. Er ward frei gesprochen. Als man ihn nach der Bedeutung seines Ausrufs fragte, antwortete er: den Galgen. Die lebhafte Anschauung dieser schrecklichen Folge seines Geständnisses erstumpfte in ihm allen Schmerz. -- Die wüthendsten Martern der Migräne verlieren sich, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, oft unvermerkt während einer interessanten Unterhaltung mit einem Freunde, welche die Aufmerksamkeit leicht und sanft beschäftigt, ohne sie anzustrengen; da hingegen von der einen Seite eine zu starke Anstrengung derselben, und von der andern der völlige Mangel eines sie erregenden Gegenstandes, die eigentliche Quelle der langen Weile, eben diese Krankheit in einem beträchtlichen Grade hervorbringt. -- Auf Reisen, wo zum Theil bestän- 5. Fragment aus des Herrn Professor ![]() ![]() Die willkuͤrlich sowohl als unwillkuͤrlich auf einen Gegenstand geheftete Aufmerksamkeit unterdruͤckt oft das Gefuͤhl des heftigsten Schmerzes, und mit diesem das Fieber und dessen uͤbrige widernatuͤrliche Folgen. Man weiß, daß ein italiaͤnischer Missethaͤter, der durch die grausamste Folter nicht zum Gestaͤndniß gebracht werden konnte, und sie ohne die geringste Verzuckung aushielt, waͤhrend derselben immer rief: io ti veddo. Er ward frei gesprochen. Als man ihn nach der Bedeutung seines Ausrufs fragte, antwortete er: den Galgen. Die lebhafte Anschauung dieser schrecklichen Folge seines Gestaͤndnisses erstumpfte in ihm allen Schmerz. — Die wuͤthendsten Martern der Migraͤne verlieren sich, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, oft unvermerkt waͤhrend einer interessanten Unterhaltung mit einem Freunde, welche die Aufmerksamkeit leicht und sanft beschaͤftigt, ohne sie anzustrengen; da hingegen von der einen Seite eine zu starke Anstrengung derselben, und von der andern der voͤllige Mangel eines sie erregenden Gegenstandes, die eigentliche Quelle der langen Weile, eben diese Krankheit in einem betraͤchtlichen Grade hervorbringt. — Auf Reisen, wo zum Theil bestaͤn- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0099" n="97"/><lb/><lb/> </div> <div n="3"> <head>5. Fragment aus des Herrn Professor<persName ref="#ref0022"><note type="editorial">Herz, Marcus</note> Herz</persName> Schrift, uͤber den Schwindel.</head><lb/> <note type="editorial"> <bibl> <persName ref="#ref22"><note type="editorial"/>Herz, Marcus</persName> </bibl> </note> <p>Die willkuͤrlich sowohl als unwillkuͤrlich auf einen Gegenstand geheftete Aufmerksamkeit unterdruͤckt oft das Gefuͤhl des heftigsten Schmerzes, und mit diesem das Fieber und dessen uͤbrige widernatuͤrliche Folgen. Man weiß, daß ein italiaͤnischer Missethaͤter, der durch die grausamste Folter nicht zum Gestaͤndniß gebracht werden konnte, und sie ohne die geringste Verzuckung aushielt, waͤhrend derselben immer rief: <hi rendition="#aq">io ti veddo.</hi> Er ward frei gesprochen. Als man ihn nach der Bedeutung seines Ausrufs fragte, antwortete er: <hi rendition="#b">den Galgen.</hi> Die lebhafte Anschauung dieser schrecklichen Folge seines Gestaͤndnisses erstumpfte in ihm allen Schmerz. — Die wuͤthendsten Martern der Migraͤne verlieren sich, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, oft unvermerkt waͤhrend einer interessanten Unterhaltung mit einem Freunde, welche die Aufmerksamkeit leicht und sanft beschaͤftigt, ohne sie anzustrengen; da hingegen von der einen Seite eine zu starke Anstrengung derselben, und von der andern der voͤllige Mangel eines sie erregenden Gegenstandes, die eigentliche Quelle der <hi rendition="#b">langen Weile,</hi> eben diese Krankheit in einem betraͤchtlichen Grade hervorbringt. — Auf Reisen, wo zum Theil bestaͤn-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [97/0099]
5. Fragment aus des Herrn Professor Herz Schrift, uͤber den Schwindel.
Die willkuͤrlich sowohl als unwillkuͤrlich auf einen Gegenstand geheftete Aufmerksamkeit unterdruͤckt oft das Gefuͤhl des heftigsten Schmerzes, und mit diesem das Fieber und dessen uͤbrige widernatuͤrliche Folgen. Man weiß, daß ein italiaͤnischer Missethaͤter, der durch die grausamste Folter nicht zum Gestaͤndniß gebracht werden konnte, und sie ohne die geringste Verzuckung aushielt, waͤhrend derselben immer rief: io ti veddo. Er ward frei gesprochen. Als man ihn nach der Bedeutung seines Ausrufs fragte, antwortete er: den Galgen. Die lebhafte Anschauung dieser schrecklichen Folge seines Gestaͤndnisses erstumpfte in ihm allen Schmerz. — Die wuͤthendsten Martern der Migraͤne verlieren sich, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, oft unvermerkt waͤhrend einer interessanten Unterhaltung mit einem Freunde, welche die Aufmerksamkeit leicht und sanft beschaͤftigt, ohne sie anzustrengen; da hingegen von der einen Seite eine zu starke Anstrengung derselben, und von der andern der voͤllige Mangel eines sie erregenden Gegenstandes, die eigentliche Quelle der langen Weile, eben diese Krankheit in einem betraͤchtlichen Grade hervorbringt. — Auf Reisen, wo zum Theil bestaͤn-
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 1. Berlin, 1792, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0901_1792/99>, abgerufen am 27.07.2024. |