Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 7, St. 1. Berlin, 1789.

Bild:
<< vorherige Seite


nicht leicht, oder überhaupt gar nicht ein Bedürfniß, sie aufzusuchen, empfinden kann. Sie lassen sich zwar in Bildern darstellen, aber der Taubstumme wird doch auch nur immer das Bild im Kopfe haben; nicht den religiösen Sinn der Geschichte, oder Glaubenslehre, der dadurch ausgedrückt werden soll. Zeigt er ein gewisses Wohlgefallen daran, so würde man nach meiner Meinung sehr übereilt schließen, daß er eine Neigung zu den vermeintlichen Religionsbegriffen haben müsse; -- es ist wieder das Bild, an dem er sich ergötzt, nicht der dogmatische Sinn der Sache, welchen man ihm beigebracht zu haben glaubt. Dieß erhellet schon selbst aus nachfolgendem Beispiel: "der Taubstumme, heißt es, betete die zweite Person in der Gottheit an." Es ist unmöglich zu glauben, daß der unwissende taubstumme Mensch die dunkle und abstracte Lehre von der Gottheit Christi gefaßt haben sollte. Was er anbetete, war der am Creutz hängende Mann, den er sich als einen Ermordeten, als einen unschuldig Ermordeten, vermöge der ihm hiervon sinnlich beigebrachten Jdeen, vorstellte. Es konnte ihm ferner sehr anschaulich gemacht werden, daß diesen Mann die Juden ermordet hätten, und hieraus floß ganz natürlich die erschreckliche Abneigung, die der Taubstumme vor allen Juden hatte. "So oft er einen Menschen sah, den er an dem Barte für einen Juden erkannte, brummte er vor lauter Un-


nicht leicht, oder uͤberhaupt gar nicht ein Beduͤrfniß, sie aufzusuchen, empfinden kann. Sie lassen sich zwar in Bildern darstellen, aber der Taubstumme wird doch auch nur immer das Bild im Kopfe haben; nicht den religioͤsen Sinn der Geschichte, oder Glaubenslehre, der dadurch ausgedruͤckt werden soll. Zeigt er ein gewisses Wohlgefallen daran, so wuͤrde man nach meiner Meinung sehr uͤbereilt schließen, daß er eine Neigung zu den vermeintlichen Religionsbegriffen haben muͤsse; — es ist wieder das Bild, an dem er sich ergoͤtzt, nicht der dogmatische Sinn der Sache, welchen man ihm beigebracht zu haben glaubt. Dieß erhellet schon selbst aus nachfolgendem Beispiel: »der Taubstumme, heißt es, betete die zweite Person in der Gottheit an.« Es ist unmoͤglich zu glauben, daß der unwissende taubstumme Mensch die dunkle und abstracte Lehre von der Gottheit Christi gefaßt haben sollte. Was er anbetete, war der am Creutz haͤngende Mann, den er sich als einen Ermordeten, als einen unschuldig Ermordeten, vermoͤge der ihm hiervon sinnlich beigebrachten Jdeen, vorstellte. Es konnte ihm ferner sehr anschaulich gemacht werden, daß diesen Mann die Juden ermordet haͤtten, und hieraus floß ganz natuͤrlich die erschreckliche Abneigung, die der Taubstumme vor allen Juden hatte. »So oft er einen Menschen sah, den er an dem Barte fuͤr einen Juden erkannte, brummte er vor lauter Un-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0007" n="5"/><lb/>
nicht leicht,                         oder u&#x0364;berhaupt gar nicht ein Bedu&#x0364;rfniß, sie aufzusuchen, empfinden kann. Sie                         lassen sich zwar in Bildern darstellen, aber der Taubstumme wird doch auch                         nur immer das Bild im Kopfe haben; nicht den religio&#x0364;sen Sinn der Geschichte,                         oder Glaubenslehre, der dadurch ausgedru&#x0364;ckt werden soll. Zeigt er ein                         gewisses Wohlgefallen daran, so wu&#x0364;rde man nach meiner Meinung sehr u&#x0364;bereilt                         schließen, daß er eine Neigung zu den vermeintlichen Religionsbegriffen                         haben mu&#x0364;sse; &#x2014; es ist wieder das <hi rendition="#b">Bild,</hi> an dem er                         sich ergo&#x0364;tzt, nicht der dogmatische Sinn der Sache, welchen man ihm                         beigebracht zu haben glaubt. Dieß erhellet schon selbst aus nachfolgendem                         Beispiel: »der Taubstumme, heißt es, betete die zweite Person in der                         Gottheit an.« Es ist unmo&#x0364;glich zu glauben, daß der unwissende taubstumme                         Mensch die dunkle und abstracte Lehre von der Gottheit Christi gefaßt haben                         sollte. Was er anbetete, war der am Creutz ha&#x0364;ngende Mann, den er sich als                         einen Ermordeten, als einen unschuldig Ermordeten, vermo&#x0364;ge der ihm hiervon                         sinnlich beigebrachten Jdeen, vorstellte. Es konnte ihm ferner sehr                         anschaulich gemacht werden, daß diesen Mann die Juden ermordet ha&#x0364;tten, und                         hieraus floß ganz natu&#x0364;rlich die erschreckliche Abneigung, die der Taubstumme                         vor allen Juden hatte. »So oft er einen Menschen sah, den er an dem Barte                         fu&#x0364;r einen Juden erkannte, brummte er vor lauter Un-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[5/0007] nicht leicht, oder uͤberhaupt gar nicht ein Beduͤrfniß, sie aufzusuchen, empfinden kann. Sie lassen sich zwar in Bildern darstellen, aber der Taubstumme wird doch auch nur immer das Bild im Kopfe haben; nicht den religioͤsen Sinn der Geschichte, oder Glaubenslehre, der dadurch ausgedruͤckt werden soll. Zeigt er ein gewisses Wohlgefallen daran, so wuͤrde man nach meiner Meinung sehr uͤbereilt schließen, daß er eine Neigung zu den vermeintlichen Religionsbegriffen haben muͤsse; — es ist wieder das Bild, an dem er sich ergoͤtzt, nicht der dogmatische Sinn der Sache, welchen man ihm beigebracht zu haben glaubt. Dieß erhellet schon selbst aus nachfolgendem Beispiel: »der Taubstumme, heißt es, betete die zweite Person in der Gottheit an.« Es ist unmoͤglich zu glauben, daß der unwissende taubstumme Mensch die dunkle und abstracte Lehre von der Gottheit Christi gefaßt haben sollte. Was er anbetete, war der am Creutz haͤngende Mann, den er sich als einen Ermordeten, als einen unschuldig Ermordeten, vermoͤge der ihm hiervon sinnlich beigebrachten Jdeen, vorstellte. Es konnte ihm ferner sehr anschaulich gemacht werden, daß diesen Mann die Juden ermordet haͤtten, und hieraus floß ganz natuͤrlich die erschreckliche Abneigung, die der Taubstumme vor allen Juden hatte. »So oft er einen Menschen sah, den er an dem Barte fuͤr einen Juden erkannte, brummte er vor lauter Un-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0701_1789
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0701_1789/7
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 7, St. 1. Berlin, 1789, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0701_1789/7>, abgerufen am 28.11.2024.