Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 3. Berlin, 1788.
Auszug aus einem Briefe. Stralsund. (4ten Bandes 2tes Stück. Seite 38 ff.) Enthält Beiträge zu den tausend und abermahl tausend Erzählungen von Visionen, jener so bekannten Spielereyen der menschlichen Einbildungskraft. "Die Gattin des Herrn Stadtmusikus Kahlow in Stralsund liegt in Wochen. Sie wacht. Eine menschliche Figur, als Türk oder Orientaler gekleidet, stellt sich neben die Stubenthür. Das gute Weib glaubt, ihr Mann habe sich verkleidet, sie ruft ihm, sich ihr zu nähern, allein vergebens, die Figur bleibt auf ihrem Posten stehen. Endlich fällt ihr ihr Bruder ein, den sie zärtlich liebte, und der beim Abschiede nach Constantinopel, wohin er vor mehrern Jahren gegangen, ihr gesagt hatte: Schwester! wenn ich
Auszug aus einem Briefe. Stralsund. (4ten Bandes 2tes Stuͤck. Seite 38 ff.) Enthaͤlt Beitraͤge zu den tausend und abermahl tausend Erzaͤhlungen von Visionen, jener so bekannten Spielereyen der menschlichen Einbildungskraft. »Die Gattin des Herrn Stadtmusikus Kahlow in Stralsund liegt in Wochen. Sie wacht. Eine menschliche Figur, als Tuͤrk oder Orientaler gekleidet, stellt sich neben die Stubenthuͤr. Das gute Weib glaubt, ihr Mann habe sich verkleidet, sie ruft ihm, sich ihr zu naͤhern, allein vergebens, die Figur bleibt auf ihrem Posten stehen. Endlich faͤllt ihr ihr Bruder ein, den sie zaͤrtlich liebte, und der beim Abschiede nach Constantinopel, wohin er vor mehrern Jahren gegangen, ihr gesagt hatte: Schwester! wenn ich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0007" n="7"/><lb/> theidigen sich mit groͤßter Lebhaftigkeit gegen alle Vorwuͤrfe, daß sie ihren Verstand verlohren haͤtten, so wie diese es selten zugeben, daß sie ihr Gehirn berauscht haben. Jch erinnere mich, daß mir einst ein Wahnsinniger die Gruͤnde genau detaillirte, daß er seinen Verstand nicht verlohren haben koͤnne, und die Gruͤnde waren nicht unvernuͤnftig. Leute hingegen, die bloͤdsinnig <hi rendition="#b">gebohren werden,</hi> gestehen gemeiniglich den Mangel ihres Verstandes laut ein, und ihre Verruͤcktheit ist selten so gefaͤhrlich, als die, derjenigen, welche ihren Verstand in spaͤtern Jahren verliehren.</p> </div> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <div n="3"> <head><hi rendition="#b">Auszug aus einem Briefe. Stralsund.</hi> (4ten Bandes 2tes Stuͤck. Seite 38 ff.)</head><lb/> <p>Enthaͤlt Beitraͤge zu den tausend und <choice><corr>abermahl</corr><sic>abemah</sic></choice> tausend Erzaͤhlungen von <hi rendition="#b">Visionen,</hi> jener so bekannten Spielereyen der menschlichen Einbildungskraft. »Die Gattin des Herrn Stadtmusikus Kahlow in Stralsund liegt in Wochen. Sie wacht. Eine menschliche Figur, als Tuͤrk oder Orientaler gekleidet, stellt sich neben die Stubenthuͤr. Das gute Weib glaubt, ihr Mann habe sich verkleidet, sie ruft ihm, sich ihr zu naͤhern, allein vergebens, die Figur bleibt auf ihrem Posten stehen. Endlich faͤllt ihr ihr Bruder ein, den sie zaͤrtlich liebte, und der beim Abschiede nach Constantinopel, wohin er vor mehrern Jahren gegangen, ihr gesagt hatte: Schwester! wenn ich<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [7/0007]
theidigen sich mit groͤßter Lebhaftigkeit gegen alle Vorwuͤrfe, daß sie ihren Verstand verlohren haͤtten, so wie diese es selten zugeben, daß sie ihr Gehirn berauscht haben. Jch erinnere mich, daß mir einst ein Wahnsinniger die Gruͤnde genau detaillirte, daß er seinen Verstand nicht verlohren haben koͤnne, und die Gruͤnde waren nicht unvernuͤnftig. Leute hingegen, die bloͤdsinnig gebohren werden, gestehen gemeiniglich den Mangel ihres Verstandes laut ein, und ihre Verruͤcktheit ist selten so gefaͤhrlich, als die, derjenigen, welche ihren Verstand in spaͤtern Jahren verliehren.
Auszug aus einem Briefe. Stralsund. (4ten Bandes 2tes Stuͤck. Seite 38 ff.)
Enthaͤlt Beitraͤge zu den tausend und abermahl tausend Erzaͤhlungen von Visionen, jener so bekannten Spielereyen der menschlichen Einbildungskraft. »Die Gattin des Herrn Stadtmusikus Kahlow in Stralsund liegt in Wochen. Sie wacht. Eine menschliche Figur, als Tuͤrk oder Orientaler gekleidet, stellt sich neben die Stubenthuͤr. Das gute Weib glaubt, ihr Mann habe sich verkleidet, sie ruft ihm, sich ihr zu naͤhern, allein vergebens, die Figur bleibt auf ihrem Posten stehen. Endlich faͤllt ihr ihr Bruder ein, den sie zaͤrtlich liebte, und der beim Abschiede nach Constantinopel, wohin er vor mehrern Jahren gegangen, ihr gesagt hatte: Schwester! wenn ich
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 3. Berlin, 1788, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0603_1788/7>, abgerufen am 16.02.2025. |