Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 3. Berlin, 1788.
Dies Phänomen ist wohl nicht schwer zu erklären. Was ist natürlicher, als daß die Wöchnerinn ihren geliebten nach der Türkey gereisten Bruder sich öfters in orientalischer Kleidung gedacht hat, und daß sie durch einen Jdeensprung auch wohl einmahl ihrem Manne ein solches Kleid andichtete, zumal da sie als Schauspielerinn, oder Täntzerinn viel so gekleidete Masquen gesehen haben mag. Der Mann antwortete nicht, da sie ihm ruft -- nun fällt ihr eben so natürlich ihr entfernter Bruder ein, sie trägt seine Gesichtszüge vermöge der Einbildungskraft in das Bild über, und glaubt nun würklich ihren Bruder zu sehen; das Bild der Jmagination wird so stark, als eine würklich sinnliche Anschauung, was so unzählig oft bei lebhaften Leuten der Fall ist. Jn allen diesen Jdeenfolgen liegt nichts Ungewöhnliches. Hiezu kommt noch der vom Herrn Einsender sehr richtig bemerkte Umstand, daß sie eineWöchnerinn, folglich eine Kranke war, deren Nervensystem angegriffen und in einer Zerrüttung war. "Einer solchen oft ganz kurz daurenden Disposition, (fährt der Verfasser sehr gründlich zu raisonniren fort,) und sonderlich der körperlichen Theile, die uns Jdeen durch äußre sinnliche Vorstellungen zuführen, schrei-
Dies Phaͤnomen ist wohl nicht schwer zu erklaͤren. Was ist natuͤrlicher, als daß die Woͤchnerinn ihren geliebten nach der Tuͤrkey gereisten Bruder sich oͤfters in orientalischer Kleidung gedacht hat, und daß sie durch einen Jdeensprung auch wohl einmahl ihrem Manne ein solches Kleid andichtete, zumal da sie als Schauspielerinn, oder Taͤntzerinn viel so gekleidete Masquen gesehen haben mag. Der Mann antwortete nicht, da sie ihm ruft — nun faͤllt ihr eben so natuͤrlich ihr entfernter Bruder ein, sie traͤgt seine Gesichtszuͤge vermoͤge der Einbildungskraft in das Bild uͤber, und glaubt nun wuͤrklich ihren Bruder zu sehen; das Bild der Jmagination wird so stark, als eine wuͤrklich sinnliche Anschauung, was so unzaͤhlig oft bei lebhaften Leuten der Fall ist. Jn allen diesen Jdeenfolgen liegt nichts Ungewoͤhnliches. Hiezu kommt noch der vom Herrn Einsender sehr richtig bemerkte Umstand, daß sie eineWoͤchnerinn, folglich eine Kranke war, deren Nervensystem angegriffen und in einer Zerruͤttung war. »Einer solchen oft ganz kurz daurenden Disposition, (faͤhrt der Verfasser sehr gruͤndlich zu raisonniren fort,) und sonderlich der koͤrperlichen Theile, die uns Jdeen durch aͤußre sinnliche Vorstellungen zufuͤhren, schrei- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0008" n="8"/><lb/> weit von dir gerissen, sterben sollte, denn uͤberbringe ich dir selbst die Todespost. Nun erblickt sie in dem taͤuschenden Manne den verlohrnen Bruder, schreit auf: ach Leopold! so hieß der Bruder, und weg ist das Bild!« —</p> <p>Dies <choice><corr>Phaͤnomen</corr><sic>Phoͤnomen</sic></choice> ist wohl nicht schwer zu erklaͤren. Was ist natuͤrlicher, als daß die Woͤchnerinn ihren geliebten nach der Tuͤrkey gereisten Bruder sich oͤfters in orientalischer Kleidung gedacht hat, und daß sie durch einen Jdeensprung auch wohl einmahl ihrem Manne ein solches Kleid andichtete, zumal da sie als Schauspielerinn, oder Taͤntzerinn viel so gekleidete Masquen gesehen haben mag. Der Mann antwortete nicht, da sie ihm ruft — nun faͤllt ihr eben so natuͤrlich ihr entfernter Bruder ein, sie traͤgt seine Gesichtszuͤge vermoͤge der Einbildungskraft in das Bild uͤber, und glaubt nun wuͤrklich ihren Bruder zu sehen; das Bild der Jmagination wird so stark, als eine wuͤrklich sinnliche Anschauung, was so unzaͤhlig oft bei lebhaften Leuten der Fall ist. Jn allen diesen Jdeenfolgen liegt nichts Ungewoͤhnliches. Hiezu kommt noch der vom Herrn Einsender sehr richtig bemerkte Umstand, daß sie eine<hi rendition="#b">Woͤchnerinn,</hi> folglich eine Kranke war, deren Nervensystem angegriffen und in einer Zerruͤttung war. »Einer solchen oft ganz kurz daurenden Disposition, (faͤhrt der Verfasser sehr gruͤndlich zu raisonniren fort,) und sonderlich der koͤrperlichen Theile, die uns Jdeen durch <choice><corr>aͤußre</corr><sic>aͤuß re</sic></choice> sinnliche Vorstellungen zufuͤhren, schrei-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [8/0008]
weit von dir gerissen, sterben sollte, denn uͤberbringe ich dir selbst die Todespost. Nun erblickt sie in dem taͤuschenden Manne den verlohrnen Bruder, schreit auf: ach Leopold! so hieß der Bruder, und weg ist das Bild!« —
Dies Phaͤnomen ist wohl nicht schwer zu erklaͤren. Was ist natuͤrlicher, als daß die Woͤchnerinn ihren geliebten nach der Tuͤrkey gereisten Bruder sich oͤfters in orientalischer Kleidung gedacht hat, und daß sie durch einen Jdeensprung auch wohl einmahl ihrem Manne ein solches Kleid andichtete, zumal da sie als Schauspielerinn, oder Taͤntzerinn viel so gekleidete Masquen gesehen haben mag. Der Mann antwortete nicht, da sie ihm ruft — nun faͤllt ihr eben so natuͤrlich ihr entfernter Bruder ein, sie traͤgt seine Gesichtszuͤge vermoͤge der Einbildungskraft in das Bild uͤber, und glaubt nun wuͤrklich ihren Bruder zu sehen; das Bild der Jmagination wird so stark, als eine wuͤrklich sinnliche Anschauung, was so unzaͤhlig oft bei lebhaften Leuten der Fall ist. Jn allen diesen Jdeenfolgen liegt nichts Ungewoͤhnliches. Hiezu kommt noch der vom Herrn Einsender sehr richtig bemerkte Umstand, daß sie eineWoͤchnerinn, folglich eine Kranke war, deren Nervensystem angegriffen und in einer Zerruͤttung war. »Einer solchen oft ganz kurz daurenden Disposition, (faͤhrt der Verfasser sehr gruͤndlich zu raisonniren fort,) und sonderlich der koͤrperlichen Theile, die uns Jdeen durch aͤußre sinnliche Vorstellungen zufuͤhren, schrei-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien
(2015-06-09T11:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat
(2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2015-06-09T11:00:00Z)
Weitere Informationen:Anmerkungen zur Transkription:
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |