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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 2. Berlin, 1788.

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den. Die Aufgeklärtheit der Vernunft, der Scharfsinn des Geistes schützt nicht immer vor allerlei Vorurtheilen, die man entweder schon in der Jugend eingesogen hat, oder in spätern Jahren aus einer gewissen Anhänglichkeit an dem Wunderbaren anzunehmen pflegt, sonderlich wenn sich Privatneigungen bei Annahme jener Vorurtheile mit in's Spiel mischen. Jeder große Kopf scheint irgend eine Stelle an sich zu haben, die man nicht stark berühren darf, ohne sehr deutliche Vernunftblößen, ich will nicht sagen, ohne eine kleine Tinktur von Wahnsinn zu bemerken. Die menschliche Seele hat gleichsam ihre Fächer; -- mehrere können mit den vortreflichsten Kenntnissen und mit einer lichtvollen Helle der Vernunft angefüllt seyn; aber ein einziges kann dem ungeachtet Unsinn enthalten. Daher das unbegreifliche Eclipsiren so vieler vortreflichen Köpfe, daher das unbegreifliche Ankleben derselben an gewissen, sonderlich Religionsirrthümern, daher ihr Scharfsinn in andern Fächern, z.B. in der Mathematik, und ihr blinder Glaube an theologische Wahrheiten, die der Vernunft schnurgrade entgegen stehn.

Cardan*) vereinigte in seinem Kopfe eine ungeheure Masse gelehrter Kenntnisse. Lessing schätzte

*) Leibnitz sagt von ihm: Qui etoit affectivement un grand homme avec tout ses defauts, & auroit ete incomparable sans ces defauts. E. Theodicee pag. 435.


den. Die Aufgeklaͤrtheit der Vernunft, der Scharfsinn des Geistes schuͤtzt nicht immer vor allerlei Vorurtheilen, die man entweder schon in der Jugend eingesogen hat, oder in spaͤtern Jahren aus einer gewissen Anhaͤnglichkeit an dem Wunderbaren anzunehmen pflegt, sonderlich wenn sich Privatneigungen bei Annahme jener Vorurtheile mit in's Spiel mischen. Jeder große Kopf scheint irgend eine Stelle an sich zu haben, die man nicht stark beruͤhren darf, ohne sehr deutliche Vernunftbloͤßen, ich will nicht sagen, ohne eine kleine Tinktur von Wahnsinn zu bemerken. Die menschliche Seele hat gleichsam ihre Faͤcher; — mehrere koͤnnen mit den vortreflichsten Kenntnissen und mit einer lichtvollen Helle der Vernunft angefuͤllt seyn; aber ein einziges kann dem ungeachtet Unsinn enthalten. Daher das unbegreifliche Eclipsiren so vieler vortreflichen Koͤpfe, daher das unbegreifliche Ankleben derselben an gewissen, sonderlich Religionsirrthuͤmern, daher ihr Scharfsinn in andern Faͤchern, z.B. in der Mathematik, und ihr blinder Glaube an theologische Wahrheiten, die der Vernunft schnurgrade entgegen stehn.

Cardan*) vereinigte in seinem Kopfe eine ungeheure Masse gelehrter Kenntnisse. Lessing schaͤtzte

*) Leibnitz sagt von ihm: Qui étoit affectivement un grand homme avec tout ses défauts, & auroit été incomparable sans ces défauts. E. Théodicée pag. 435.
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[79/0079] den. Die Aufgeklaͤrtheit der Vernunft, der Scharfsinn des Geistes schuͤtzt nicht immer vor allerlei Vorurtheilen, die man entweder schon in der Jugend eingesogen hat, oder in spaͤtern Jahren aus einer gewissen Anhaͤnglichkeit an dem Wunderbaren anzunehmen pflegt, sonderlich wenn sich Privatneigungen bei Annahme jener Vorurtheile mit in's Spiel mischen. Jeder große Kopf scheint irgend eine Stelle an sich zu haben, die man nicht stark beruͤhren darf, ohne sehr deutliche Vernunftbloͤßen, ich will nicht sagen, ohne eine kleine Tinktur von Wahnsinn zu bemerken. Die menschliche Seele hat gleichsam ihre Faͤcher; — mehrere koͤnnen mit den vortreflichsten Kenntnissen und mit einer lichtvollen Helle der Vernunft angefuͤllt seyn; aber ein einziges kann dem ungeachtet Unsinn enthalten. Daher das unbegreifliche Eclipsiren so vieler vortreflichen Koͤpfe, daher das unbegreifliche Ankleben derselben an gewissen, sonderlich Religionsirrthuͤmern, daher ihr Scharfsinn in andern Faͤchern, z.B. in der Mathematik, und ihr blinder Glaube an theologische Wahrheiten, die der Vernunft schnurgrade entgegen stehn. Cardan*) vereinigte in seinem Kopfe eine ungeheure Masse gelehrter Kenntnisse. Lessing schaͤtzte *) Leibnitz sagt von ihm: Qui étoit affectivement un grand homme avec tout ses défauts, & auroit été incomparable sans ces défauts. E. Théodicée pag. 435.

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 2. Berlin, 1788, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0602_1788/79>, abgerufen am 28.04.2024.