Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 2. Berlin, 1788."Es war im Hornung, und der Anfang des nächstfolgenden Jahrs, als ich mich zu Pavia aufhielt, und dort Collegia las, als ich von ungefähr meine Hand besah, und unten an meinem rechten Goldfinger das Bild eines blutigen Schwerdtes erblickte. Jch gerieth in ein plötzliches Schrecken. Den nämlichen Abend kam ein Bote zu Fuß mit Briefen von meinem Schwiegersohn, worin er mir meldete, daß mein Sohn gefangen sey, und daß ich nach Mailand kommen mögte. Von diesem Tage an ließ sich dieses Zeichen dreiundfunfzig Tage lang sehen, es stieg immer höher. Am letzten Tage war es bis zur obersten Fingerspitze hinaufgerückt, und sah flammend blutroth aus. Jch, ob ich gleich nicht so etwas vermuthete, war vor Schrecken doch ganz ausser mir, wußte nicht, was ich sagen oder denken sollte, -- um Mitternacht wurde mein Sohn mit einem Schwerdte hingerichtet, den Morgen drauf war das Zeichen auf meinem Finger fast ganz verschwunden, den Tag drauf war nichts mehr davon zu sehn." "Beinahe zwanzig Tage vorher, als er gefangen saß, studirte ich in meiner Bibliothek, und hörte eine Stimme, als wenn jemand etwas Bejammernswürdiges bekannte, das bald ein Ende nehmen sollte; es war, als wenn mir das Herz geöffnet, zerfleischt und aus dem Leibe gerissen würde. Wüthend sprang ich auf, lief in den Hof, fand da Leute, von de- »Es war im Hornung, und der Anfang des naͤchstfolgenden Jahrs, als ich mich zu Pavia aufhielt, und dort Collegia las, als ich von ungefaͤhr meine Hand besah, und unten an meinem rechten Goldfinger das Bild eines blutigen Schwerdtes erblickte. Jch gerieth in ein ploͤtzliches Schrecken. Den naͤmlichen Abend kam ein Bote zu Fuß mit Briefen von meinem Schwiegersohn, worin er mir meldete, daß mein Sohn gefangen sey, und daß ich nach Mailand kommen moͤgte. Von diesem Tage an ließ sich dieses Zeichen dreiundfunfzig Tage lang sehen, es stieg immer hoͤher. Am letzten Tage war es bis zur obersten Fingerspitze hinaufgeruͤckt, und sah flammend blutroth aus. Jch, ob ich gleich nicht so etwas vermuthete, war vor Schrecken doch ganz ausser mir, wußte nicht, was ich sagen oder denken sollte, — um Mitternacht wurde mein Sohn mit einem Schwerdte hingerichtet, den Morgen drauf war das Zeichen auf meinem Finger fast ganz verschwunden, den Tag drauf war nichts mehr davon zu sehn.« »Beinahe zwanzig Tage vorher, als er gefangen saß, studirte ich in meiner Bibliothek, und hoͤrte eine Stimme, als wenn jemand etwas Bejammernswuͤrdiges bekannte, das bald ein Ende nehmen sollte; es war, als wenn mir das Herz geoͤffnet, zerfleischt und aus dem Leibe gerissen wuͤrde. Wuͤthend sprang ich auf, lief in den Hof, fand da Leute, von de- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0077" n="77"/><lb/> <p>»Es war im Hornung, und der Anfang des naͤchstfolgenden Jahrs, als ich mich zu Pavia aufhielt, und dort Collegia las, als ich von ungefaͤhr meine Hand besah, und unten an meinem rechten Goldfinger das Bild eines blutigen Schwerdtes erblickte. Jch gerieth in ein ploͤtzliches Schrecken. Den naͤmlichen Abend kam ein Bote zu Fuß mit Briefen von meinem Schwiegersohn, worin er mir meldete, daß mein Sohn gefangen sey, und daß ich nach Mailand kommen moͤgte. Von diesem Tage an ließ sich dieses <choice><corr>Zeichen</corr><sic>Zeiches</sic></choice> dreiundfunfzig Tage lang sehen, es stieg immer hoͤher. Am letzten Tage war es bis zur obersten Fingerspitze hinaufgeruͤckt, und sah flammend blutroth aus. Jch, ob ich gleich nicht so etwas vermuthete, war vor Schrecken doch ganz ausser mir, wußte nicht, was ich sagen oder denken sollte, — um Mitternacht wurde mein Sohn mit einem Schwerdte hingerichtet, den Morgen drauf war das Zeichen auf meinem Finger fast ganz verschwunden, den Tag drauf war nichts mehr davon zu sehn.«</p> <p>»Beinahe zwanzig Tage vorher, als er gefangen saß, studirte ich in meiner Bibliothek, und hoͤrte eine Stimme, als wenn jemand etwas Bejammernswuͤrdiges bekannte, das bald ein Ende nehmen sollte; es war, als wenn mir das Herz geoͤffnet, zerfleischt und aus dem Leibe gerissen wuͤrde. Wuͤthend sprang ich auf, lief in den Hof, fand da Leute, von de-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [77/0077]
»Es war im Hornung, und der Anfang des naͤchstfolgenden Jahrs, als ich mich zu Pavia aufhielt, und dort Collegia las, als ich von ungefaͤhr meine Hand besah, und unten an meinem rechten Goldfinger das Bild eines blutigen Schwerdtes erblickte. Jch gerieth in ein ploͤtzliches Schrecken. Den naͤmlichen Abend kam ein Bote zu Fuß mit Briefen von meinem Schwiegersohn, worin er mir meldete, daß mein Sohn gefangen sey, und daß ich nach Mailand kommen moͤgte. Von diesem Tage an ließ sich dieses Zeichen dreiundfunfzig Tage lang sehen, es stieg immer hoͤher. Am letzten Tage war es bis zur obersten Fingerspitze hinaufgeruͤckt, und sah flammend blutroth aus. Jch, ob ich gleich nicht so etwas vermuthete, war vor Schrecken doch ganz ausser mir, wußte nicht, was ich sagen oder denken sollte, — um Mitternacht wurde mein Sohn mit einem Schwerdte hingerichtet, den Morgen drauf war das Zeichen auf meinem Finger fast ganz verschwunden, den Tag drauf war nichts mehr davon zu sehn.«
»Beinahe zwanzig Tage vorher, als er gefangen saß, studirte ich in meiner Bibliothek, und hoͤrte eine Stimme, als wenn jemand etwas Bejammernswuͤrdiges bekannte, das bald ein Ende nehmen sollte; es war, als wenn mir das Herz geoͤffnet, zerfleischt und aus dem Leibe gerissen wuͤrde. Wuͤthend sprang ich auf, lief in den Hof, fand da Leute, von de-
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 2. Berlin, 1788, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0602_1788/77>, abgerufen am 16.02.2025. |