Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 1. Berlin, 1788.

Bild:
<< vorherige Seite


übertrifft und ganz verdunkeln kann. Gesellt sich dazu nun noch irgend eine andre religiöse Grille, Bilder und Gefühle von einer geträumten himmlischen Entzückung; ist die Seele von feurigen Gedanken an Gott und den Erlöser, oder von schrecklichen Vorstellungen an einen Teufel eingenommen: so kann die Phantasie mit dem armen Menschen machen, was sie will, so sieht er Dinge, die nie existirt haben, und nie existiren werden, hört Stimmen und Worte, die nie ausgesprochen worden sind, macht Spatzierfahrten durch den Himmel, - so wie ihn der Enthusiast irgend einmal aus einem Gemälde, oder in einer Predigt, oder in einem mystischen Erbauungsbuche abgeschildert gefunden hat. Die weibliche Seele, die ihre Natur auch im Traume nicht verläugnen kann, erblickt männliche Gestalten, Engel u. dergl., wird von ihnen holdselig angeredet, und die Gottheit kommt wohl gar selbst, bei der Phantastinn ihren Besuch abzulegen. Alles dies ist der erhizten Einbildungskraft so leicht, läßt sich so äusserst natürlich aus ihren Gesetzen, die auch bei den stärksten Verwirrungen der Phantasie noch zum Grunde liegen, erklären, daß ich nicht begreifen kann, wie es möglich ist, dergleichen natürliche Phänomene der Seele für übernatürliche Wirkungen einer höhern Offenbarung zu halten; nicht begreifen kann, warum dergleichen Offenbarungen ohne sehr wichtige grosse Zwecke da seyn sollen, ich will nicht sagen: ob überhaupt da seyn


uͤbertrifft und ganz verdunkeln kann. Gesellt sich dazu nun noch irgend eine andre religioͤse Grille, Bilder und Gefuͤhle von einer getraͤumten himmlischen Entzuͤckung; ist die Seele von feurigen Gedanken an Gott und den Erloͤser, oder von schrecklichen Vorstellungen an einen Teufel eingenommen: so kann die Phantasie mit dem armen Menschen machen, was sie will, so sieht er Dinge, die nie existirt haben, und nie existiren werden, hoͤrt Stimmen und Worte, die nie ausgesprochen worden sind, macht Spatzierfahrten durch den Himmel, – so wie ihn der Enthusiast irgend einmal aus einem Gemaͤlde, oder in einer Predigt, oder in einem mystischen Erbauungsbuche abgeschildert gefunden hat. Die weibliche Seele, die ihre Natur auch im Traume nicht verlaͤugnen kann, erblickt maͤnnliche Gestalten, Engel u. dergl., wird von ihnen holdselig angeredet, und die Gottheit kommt wohl gar selbst, bei der Phantastinn ihren Besuch abzulegen. Alles dies ist der erhizten Einbildungskraft so leicht, laͤßt sich so aͤusserst natuͤrlich aus ihren Gesetzen, die auch bei den staͤrksten Verwirrungen der Phantasie noch zum Grunde liegen, erklaͤren, daß ich nicht begreifen kann, wie es moͤglich ist, dergleichen natuͤrliche Phaͤnomene der Seele fuͤr uͤbernatuͤrliche Wirkungen einer hoͤhern Offenbarung zu halten; nicht begreifen kann, warum dergleichen Offenbarungen ohne sehr wichtige grosse Zwecke da seyn sollen, ich will nicht sagen: ob uͤberhaupt da seyn

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0037" n="35"/><lb/>
u&#x0364;bertrifft und ganz verdunkeln kann. Gesellt sich dazu nun noch irgend eine                   andre religio&#x0364;se Grille, Bilder und Gefu&#x0364;hle von einer getra&#x0364;umten himmlischen                   Entzu&#x0364;ckung; ist die Seele von feurigen Gedanken an Gott und den Erlo&#x0364;ser, oder von                   schrecklichen Vorstellungen an einen Teufel eingenommen: so kann die Phantasie mit                   dem armen Menschen machen, was sie will, so sieht er Dinge, die nie existirt                   haben, und nie existiren werden, ho&#x0364;rt Stimmen und Worte, die nie ausgesprochen                   worden sind, macht Spatzierfahrten durch den Himmel, &#x2013; so wie ihn der Enthusiast                   irgend einmal aus einem Gema&#x0364;lde, oder in einer Predigt, oder in einem mystischen                   Erbauungsbuche abgeschildert gefunden hat. Die weibliche Seele, die ihre Natur                   auch im Traume nicht verla&#x0364;ugnen kann, erblickt ma&#x0364;nnliche Gestalten, Engel u.                   dergl., wird von ihnen holdselig angeredet, und die Gottheit kommt wohl gar                   selbst, bei der Phantastinn ihren Besuch abzulegen. Alles dies ist der erhizten                   Einbildungskraft so leicht, la&#x0364;ßt sich so a&#x0364;usserst natu&#x0364;rlich aus ihren Gesetzen,                   die auch bei den sta&#x0364;rksten Verwirrungen der Phantasie noch zum Grunde liegen,                   erkla&#x0364;ren, daß ich nicht begreifen kann, wie es mo&#x0364;glich ist, dergleichen natu&#x0364;rliche                   Pha&#x0364;nomene der Seele fu&#x0364;r u&#x0364;bernatu&#x0364;rliche Wirkungen einer ho&#x0364;hern Offenbarung zu                   halten; nicht begreifen kann, warum dergleichen Offenbarungen ohne sehr wichtige                   grosse Zwecke da seyn sollen, ich will nicht sagen: ob <hi rendition="#b">u&#x0364;berhaupt                      da seyn<lb/></hi></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[35/0037] uͤbertrifft und ganz verdunkeln kann. Gesellt sich dazu nun noch irgend eine andre religioͤse Grille, Bilder und Gefuͤhle von einer getraͤumten himmlischen Entzuͤckung; ist die Seele von feurigen Gedanken an Gott und den Erloͤser, oder von schrecklichen Vorstellungen an einen Teufel eingenommen: so kann die Phantasie mit dem armen Menschen machen, was sie will, so sieht er Dinge, die nie existirt haben, und nie existiren werden, hoͤrt Stimmen und Worte, die nie ausgesprochen worden sind, macht Spatzierfahrten durch den Himmel, – so wie ihn der Enthusiast irgend einmal aus einem Gemaͤlde, oder in einer Predigt, oder in einem mystischen Erbauungsbuche abgeschildert gefunden hat. Die weibliche Seele, die ihre Natur auch im Traume nicht verlaͤugnen kann, erblickt maͤnnliche Gestalten, Engel u. dergl., wird von ihnen holdselig angeredet, und die Gottheit kommt wohl gar selbst, bei der Phantastinn ihren Besuch abzulegen. Alles dies ist der erhizten Einbildungskraft so leicht, laͤßt sich so aͤusserst natuͤrlich aus ihren Gesetzen, die auch bei den staͤrksten Verwirrungen der Phantasie noch zum Grunde liegen, erklaͤren, daß ich nicht begreifen kann, wie es moͤglich ist, dergleichen natuͤrliche Phaͤnomene der Seele fuͤr uͤbernatuͤrliche Wirkungen einer hoͤhern Offenbarung zu halten; nicht begreifen kann, warum dergleichen Offenbarungen ohne sehr wichtige grosse Zwecke da seyn sollen, ich will nicht sagen: ob uͤberhaupt da seyn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0601_1788
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0601_1788/37
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 1. Berlin, 1788, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0601_1788/37>, abgerufen am 21.11.2024.