Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 1. Berlin, 1788."Zur Genesung, heißt es weiter, war alle Hoffnung verschwunden, und das Bild des nahen gewissen Todes schwebte mir vor. Hier kamen einige verwickelte Phänomene zum Vorschein. Wenn ich die Frage aufwarf: ob ich lieber jetzt sterben, oder meinen siechen Körper noch ein halbes Jahr hinschleppen wollte? - so wählte ich gleich mit Empressement das Leztere. Die Todesfurcht schien also ganz die Oberhand zu haben. Analysirte ich aber diese Wahl weiter, so fand ich, daß meine Seele nicht den Tod heut, und den Tod nach einem Jahr verglichen hatte; sondern es ging so zu: Sie dachte sich einen Schwindsüchtigen, freilich mit vielen Unbequemlichkeiten dem Grabe entgegenschleichend; der aber doch noch ein wenig reden, ein wenig gehen, ein wenig sich bewegen konnte. Jch hingegen lag ohne Hand oder Fuß zu regen, ohne ein Wort reden zu dürfen, in der unbequemsten Stellung, die mir an manchen Orten empfindliche Schmerzen machte; mein Athem drängte sich durch die beklemmte Brust, und in dieser Verfassung sollte ich die Ankunft des Todes erwarten. Da war das Bild dessen, der doch ein wenig mehr Freiheit hatte, als ich, offenbar angenehmer." "Die Zukunft nach dem Tode wirkte gar nicht auf mich. Kein lebhafter Gedanke von Ewigkeit, Sünde, Strafe, - nichts davon. Ein unab- »Zur Genesung, heißt es weiter, war alle Hoffnung verschwunden, und das Bild des nahen gewissen Todes schwebte mir vor. Hier kamen einige verwickelte Phaͤnomene zum Vorschein. Wenn ich die Frage aufwarf: ob ich lieber jetzt sterben, oder meinen siechen Koͤrper noch ein halbes Jahr hinschleppen wollte? – so waͤhlte ich gleich mit Empressement das Leztere. Die Todesfurcht schien also ganz die Oberhand zu haben. Analysirte ich aber diese Wahl weiter, so fand ich, daß meine Seele nicht den Tod heut, und den Tod nach einem Jahr verglichen hatte; sondern es ging so zu: Sie dachte sich einen Schwindsuͤchtigen, freilich mit vielen Unbequemlichkeiten dem Grabe entgegenschleichend; der aber doch noch ein wenig reden, ein wenig gehen, ein wenig sich bewegen konnte. Jch hingegen lag ohne Hand oder Fuß zu regen, ohne ein Wort reden zu duͤrfen, in der unbequemsten Stellung, die mir an manchen Orten empfindliche Schmerzen machte; mein Athem draͤngte sich durch die beklemmte Brust, und in dieser Verfassung sollte ich die Ankunft des Todes erwarten. Da war das Bild dessen, der doch ein wenig mehr Freiheit hatte, als ich, offenbar angenehmer.« »Die Zukunft nach dem Tode wirkte gar nicht auf mich. Kein lebhafter Gedanke von Ewigkeit, Suͤnde, Strafe, – nichts davon. Ein unab- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0010" n="8"/><lb/> <p>»Zur Genesung, heißt es weiter, war alle Hoffnung verschwunden, und das Bild des nahen gewissen Todes schwebte mir vor. Hier kamen einige verwickelte Phaͤnomene zum Vorschein. Wenn ich die Frage aufwarf: ob ich lieber jetzt sterben, oder meinen siechen Koͤrper noch ein halbes Jahr hinschleppen wollte? – so waͤhlte ich gleich mit Empressement das <choice><corr><hi rendition="#b">Leztere.</hi></corr><sic>Leztere.«</sic></choice></p> <p><choice><corr>Die</corr><sic>»Die</sic></choice><hi rendition="#b">Todesfurcht</hi> schien also ganz die Oberhand zu haben. Analysirte ich aber diese Wahl weiter, so fand ich, daß meine Seele nicht den <hi rendition="#b">Tod heut,</hi> und den <hi rendition="#b">Tod nach einem Jahr</hi> verglichen hatte; sondern es ging so zu: Sie dachte sich einen Schwindsuͤchtigen, freilich mit vielen Unbequemlichkeiten dem Grabe entgegenschleichend; der aber doch noch ein wenig reden, ein wenig gehen, ein wenig sich bewegen konnte. Jch hingegen lag ohne Hand oder Fuß zu regen, ohne ein Wort reden zu duͤrfen, in der unbequemsten Stellung, die mir an manchen Orten empfindliche Schmerzen machte; mein Athem draͤngte sich durch die beklemmte Brust, und in dieser Verfassung sollte ich die Ankunft des Todes erwarten. Da war das Bild dessen, der doch ein wenig mehr Freiheit hatte, als ich, offenbar angenehmer.«</p> <p>»Die Zukunft nach dem Tode wirkte gar nicht auf mich. Kein lebhafter Gedanke von Ewigkeit, Suͤnde, Strafe, – nichts davon. Ein unab-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [8/0010]
»Zur Genesung, heißt es weiter, war alle Hoffnung verschwunden, und das Bild des nahen gewissen Todes schwebte mir vor. Hier kamen einige verwickelte Phaͤnomene zum Vorschein. Wenn ich die Frage aufwarf: ob ich lieber jetzt sterben, oder meinen siechen Koͤrper noch ein halbes Jahr hinschleppen wollte? – so waͤhlte ich gleich mit Empressement das Leztere.
Die Todesfurcht schien also ganz die Oberhand zu haben. Analysirte ich aber diese Wahl weiter, so fand ich, daß meine Seele nicht den Tod heut, und den Tod nach einem Jahr verglichen hatte; sondern es ging so zu: Sie dachte sich einen Schwindsuͤchtigen, freilich mit vielen Unbequemlichkeiten dem Grabe entgegenschleichend; der aber doch noch ein wenig reden, ein wenig gehen, ein wenig sich bewegen konnte. Jch hingegen lag ohne Hand oder Fuß zu regen, ohne ein Wort reden zu duͤrfen, in der unbequemsten Stellung, die mir an manchen Orten empfindliche Schmerzen machte; mein Athem draͤngte sich durch die beklemmte Brust, und in dieser Verfassung sollte ich die Ankunft des Todes erwarten. Da war das Bild dessen, der doch ein wenig mehr Freiheit hatte, als ich, offenbar angenehmer.«
»Die Zukunft nach dem Tode wirkte gar nicht auf mich. Kein lebhafter Gedanke von Ewigkeit, Suͤnde, Strafe, – nichts davon. Ein unab-
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 1. Berlin, 1788, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0601_1788/10>, abgerufen am 26.07.2024. |