Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 2. Berlin, 1787.

Bild:
<< vorherige Seite


desselben zu thun, als er unversehends dazu kommt. Die Frau, welche schwanger war, sank vor Schrecken zur Erde, und gebahr nicht lange darauf einen Sohn, welcher von frühester Kindheit an im Stehlen sein größtes Vergnügen fand. Er konnte sichs durchaus nicht abgewöhnen, und gestand oft, daß er es fortsetzen würde, wenn man auch hundert Galgen für ihn aufrichten sollte. Einen versteckten Hang zum Stehlen kann man bei erstaunlich viel Menschen annehmen, der sogleich ausbrechen würde, so bald die Societät ihm keine Gränzen mehr setzen würde. Jm Stande der Natur ist dieser Hang bei allen wilden Nationen offenbar, und die Kinder der Zigeuner sowohl als ihre Eltern sind merkwürdige Beispiele davon. Als unter der Regierung Friedrich Wilhelms I. im Brandenburgischen die Kinder der Zigeuner, um diese auszurotten, ihren Eltern weggenommen und in die Schulen gesteckt wurden, geschah es sehr oft, daß sie ihren Lehrern und Vorgesetzten Hühner und Gänse todtschlugen, und dann ihre Beute, welche sie nicht verstecken konnten, mit dem Geständniß selbst vorzeigten: daß sie das Hühner- und Gänse stehlen ohnmöglich lassen könnten. Sehr begreiflich ists, daß dieser Hang durch die täglichen Beispiele von Diebereien von Kindheit an bei ihnen sehr vermehrt werden mußte.



desselben zu thun, als er unversehends dazu kommt. Die Frau, welche schwanger war, sank vor Schrecken zur Erde, und gebahr nicht lange darauf einen Sohn, welcher von fruͤhester Kindheit an im Stehlen sein groͤßtes Vergnuͤgen fand. Er konnte sichs durchaus nicht abgewoͤhnen, und gestand oft, daß er es fortsetzen wuͤrde, wenn man auch hundert Galgen fuͤr ihn aufrichten sollte. Einen versteckten Hang zum Stehlen kann man bei erstaunlich viel Menschen annehmen, der sogleich ausbrechen wuͤrde, so bald die Societaͤt ihm keine Graͤnzen mehr setzen wuͤrde. Jm Stande der Natur ist dieser Hang bei allen wilden Nationen offenbar, und die Kinder der Zigeuner sowohl als ihre Eltern sind merkwuͤrdige Beispiele davon. Als unter der Regierung Friedrich Wilhelms I. im Brandenburgischen die Kinder der Zigeuner, um diese auszurotten, ihren Eltern weggenommen und in die Schulen gesteckt wurden, geschah es sehr oft, daß sie ihren Lehrern und Vorgesetzten Huͤhner und Gaͤnse todtschlugen, und dann ihre Beute, welche sie nicht verstecken konnten, mit dem Gestaͤndniß selbst vorzeigten: daß sie das Huͤhner- und Gaͤnse stehlen ohnmoͤglich lassen koͤnnten. Sehr begreiflich ists, daß dieser Hang durch die taͤglichen Beispiele von Diebereien von Kindheit an bei ihnen sehr vermehrt werden mußte.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0046" n="46"/><lb/>
desselben zu thun, als                   er unversehends dazu kommt. Die Frau, welche schwanger war, sank vor Schrecken zur                   Erde, und gebahr nicht lange darauf einen Sohn, welcher von fru&#x0364;hester Kindheit an                   im Stehlen sein gro&#x0364;ßtes Vergnu&#x0364;gen fand. Er konnte sichs durchaus nicht abgewo&#x0364;hnen,                   und gestand oft, daß er es fortsetzen wu&#x0364;rde, wenn man auch hundert Galgen fu&#x0364;r ihn                   aufrichten sollte. Einen <hi rendition="#b">versteckten</hi> Hang zum Stehlen                   kann man bei erstaunlich viel Menschen annehmen, der sogleich ausbrechen wu&#x0364;rde, so                   bald die Societa&#x0364;t ihm keine Gra&#x0364;nzen mehr setzen wu&#x0364;rde. Jm Stande der Natur ist                   dieser Hang bei allen wilden Nationen offenbar, und die Kinder der Zigeuner sowohl                   als <choice><corr>ihre</corr><sic>ihrer</sic></choice> Eltern sind                   merkwu&#x0364;rdige Beispiele davon. Als unter der Regierung Friedrich Wilhelms <hi rendition="#aq">I</hi>. im Brandenburgischen die                   Kinder der Zigeuner, um diese auszurotten, ihren Eltern weggenommen und in die                   Schulen gesteckt wurden, geschah es sehr oft, daß sie ihren Lehrern und                   Vorgesetzten Hu&#x0364;hner und Ga&#x0364;nse todtschlugen, und dann ihre Beute, welche sie nicht                   verstecken konnten, mit dem Gesta&#x0364;ndniß selbst vorzeigten: daß sie das Hu&#x0364;hner- und                   Ga&#x0364;nse stehlen ohnmo&#x0364;glich lassen ko&#x0364;nnten. Sehr begreiflich ists, daß dieser Hang                   durch die ta&#x0364;glichen Beispiele von Diebereien von Kindheit an bei ihnen sehr                   vermehrt werden mußte.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[46/0046] desselben zu thun, als er unversehends dazu kommt. Die Frau, welche schwanger war, sank vor Schrecken zur Erde, und gebahr nicht lange darauf einen Sohn, welcher von fruͤhester Kindheit an im Stehlen sein groͤßtes Vergnuͤgen fand. Er konnte sichs durchaus nicht abgewoͤhnen, und gestand oft, daß er es fortsetzen wuͤrde, wenn man auch hundert Galgen fuͤr ihn aufrichten sollte. Einen versteckten Hang zum Stehlen kann man bei erstaunlich viel Menschen annehmen, der sogleich ausbrechen wuͤrde, so bald die Societaͤt ihm keine Graͤnzen mehr setzen wuͤrde. Jm Stande der Natur ist dieser Hang bei allen wilden Nationen offenbar, und die Kinder der Zigeuner sowohl als ihre Eltern sind merkwuͤrdige Beispiele davon. Als unter der Regierung Friedrich Wilhelms I. im Brandenburgischen die Kinder der Zigeuner, um diese auszurotten, ihren Eltern weggenommen und in die Schulen gesteckt wurden, geschah es sehr oft, daß sie ihren Lehrern und Vorgesetzten Huͤhner und Gaͤnse todtschlugen, und dann ihre Beute, welche sie nicht verstecken konnten, mit dem Gestaͤndniß selbst vorzeigten: daß sie das Huͤhner- und Gaͤnse stehlen ohnmoͤglich lassen koͤnnten. Sehr begreiflich ists, daß dieser Hang durch die taͤglichen Beispiele von Diebereien von Kindheit an bei ihnen sehr vermehrt werden mußte.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0502_1787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0502_1787/46
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 2. Berlin, 1787, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0502_1787/46>, abgerufen am 21.11.2024.