Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 2. Berlin, 1787.

Bild:
<< vorherige Seite


weißt du noch Bruder! wie floßen nicht die drei ersten Tage die Thränen über meine Wangen! wie klagte ich laut über mein Schicksal! wie mußte ich eben so viele Nächte schlaflos mit Weinen und Jammern zubringen! und wie war ich so am ganzen Leibe krank! und gewiß, wenn du nicht bei mir gewesen wärest, oder dasselbe empfindliche Herz gehabt, mich eben den Kummer an deinem Gesichte hättest erblicken lassen; gewiß, die Krankheit wäre so lange unheilbar geblieben, bis der Grund gehoben worden wäre; es schmeckte mir kein Essen, keine Freude, kein Vergnügen; abzehrend von Harm und den quälendsten Empfindungen würde ich dem Tode entgegengegangen seyn.

Da aber konnten wir auch würklich fühlen die Größe des Verlustes all' der vergangenen Kinderfreuden und den Werth der Kindheit vor all' dem künftigen Leben, dem ein so sichtbarer empfindlicher Kontrast folgte. Du weist Bruder, wie das finstre Schicksal da schon in der Blüthe uns traf. Mangel an den Nothwendigkeiten unsers Lebens machte uns muthlos, zum Theil auch Mangel an Büchern und stetes kummervolles Streben ein Mittel aufzufinden, benahm uns alle Lebensfreuden. Mit einem Worte: wir empfanden schon das Loos der Dürftigen in seinem ganzen Umfange, auf seiner ganzen empfindlichen Seite.

Wir lernten aber auch da schon Welt und Menschen kennen; wie sichtbar war uns nicht die Ver-


weißt du noch Bruder! wie floßen nicht die drei ersten Tage die Thraͤnen uͤber meine Wangen! wie klagte ich laut uͤber mein Schicksal! wie mußte ich eben so viele Naͤchte schlaflos mit Weinen und Jammern zubringen! und wie war ich so am ganzen Leibe krank! und gewiß, wenn du nicht bei mir gewesen waͤrest, oder dasselbe empfindliche Herz gehabt, mich eben den Kummer an deinem Gesichte haͤttest erblicken lassen; gewiß, die Krankheit waͤre so lange unheilbar geblieben, bis der Grund gehoben worden waͤre; es schmeckte mir kein Essen, keine Freude, kein Vergnuͤgen; abzehrend von Harm und den quaͤlendsten Empfindungen wuͤrde ich dem Tode entgegengegangen seyn.

Da aber konnten wir auch wuͤrklich fuͤhlen die Groͤße des Verlustes all' der vergangenen Kinderfreuden und den Werth der Kindheit vor all' dem kuͤnftigen Leben, dem ein so sichtbarer empfindlicher Kontrast folgte. Du weist Bruder, wie das finstre Schicksal da schon in der Bluͤthe uns traf. Mangel an den Nothwendigkeiten unsers Lebens machte uns muthlos, zum Theil auch Mangel an Buͤchern und stetes kummervolles Streben ein Mittel aufzufinden, benahm uns alle Lebensfreuden. Mit einem Worte: wir empfanden schon das Loos der Duͤrftigen in seinem ganzen Umfange, auf seiner ganzen empfindlichen Seite.

Wir lernten aber auch da schon Welt und Menschen kennen; wie sichtbar war uns nicht die Ver-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0111" n="111"/><lb/>
weißt du noch Bruder! wie floßen nicht die drei ersten Tage die                   Thra&#x0364;nen u&#x0364;ber meine Wangen! wie klagte ich laut u&#x0364;ber mein Schicksal! wie mußte ich                   eben so viele Na&#x0364;chte schlaflos mit Weinen und Jammern zubringen! und wie war ich                   so am ganzen Leibe krank! und gewiß, wenn du nicht bei mir gewesen wa&#x0364;rest, oder                   dasselbe empfindliche Herz gehabt, mich eben den Kummer an deinem Gesichte ha&#x0364;ttest                   erblicken lassen; gewiß, die Krankheit wa&#x0364;re so lange unheilbar geblieben, bis der                   Grund gehoben worden wa&#x0364;re; es schmeckte mir kein Essen, keine Freude, kein                   Vergnu&#x0364;gen; abzehrend von Harm und den qua&#x0364;lendsten Empfindungen wu&#x0364;rde ich dem Tode                   entgegengegangen seyn.</p>
            <p>Da aber konnten wir auch wu&#x0364;rklich fu&#x0364;hlen die Gro&#x0364;ße des Verlustes all' der                   vergangenen Kinderfreuden und den Werth der Kindheit vor all' dem ku&#x0364;nftigen Leben,                   dem ein so sichtbarer empfindlicher Kontrast folgte. Du weist Bruder, wie das                   finstre Schicksal da schon in der Blu&#x0364;the uns traf. Mangel an den Nothwendigkeiten                   unsers Lebens machte uns muthlos, zum Theil auch Mangel an Bu&#x0364;chern und stetes                   kummervolles Streben ein Mittel aufzufinden, benahm uns alle Lebensfreuden. Mit                   einem Worte: wir empfanden schon das Loos der Du&#x0364;rftigen in seinem ganzen Umfange,                   auf seiner ganzen empfindlichen Seite.</p>
            <p>Wir lernten aber auch da schon Welt und Menschen kennen; wie sichtbar war uns                   nicht die Ver-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[111/0111] weißt du noch Bruder! wie floßen nicht die drei ersten Tage die Thraͤnen uͤber meine Wangen! wie klagte ich laut uͤber mein Schicksal! wie mußte ich eben so viele Naͤchte schlaflos mit Weinen und Jammern zubringen! und wie war ich so am ganzen Leibe krank! und gewiß, wenn du nicht bei mir gewesen waͤrest, oder dasselbe empfindliche Herz gehabt, mich eben den Kummer an deinem Gesichte haͤttest erblicken lassen; gewiß, die Krankheit waͤre so lange unheilbar geblieben, bis der Grund gehoben worden waͤre; es schmeckte mir kein Essen, keine Freude, kein Vergnuͤgen; abzehrend von Harm und den quaͤlendsten Empfindungen wuͤrde ich dem Tode entgegengegangen seyn. Da aber konnten wir auch wuͤrklich fuͤhlen die Groͤße des Verlustes all' der vergangenen Kinderfreuden und den Werth der Kindheit vor all' dem kuͤnftigen Leben, dem ein so sichtbarer empfindlicher Kontrast folgte. Du weist Bruder, wie das finstre Schicksal da schon in der Bluͤthe uns traf. Mangel an den Nothwendigkeiten unsers Lebens machte uns muthlos, zum Theil auch Mangel an Buͤchern und stetes kummervolles Streben ein Mittel aufzufinden, benahm uns alle Lebensfreuden. Mit einem Worte: wir empfanden schon das Loos der Duͤrftigen in seinem ganzen Umfange, auf seiner ganzen empfindlichen Seite. Wir lernten aber auch da schon Welt und Menschen kennen; wie sichtbar war uns nicht die Ver-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0502_1787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0502_1787/111
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 2. Berlin, 1787, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0502_1787/111>, abgerufen am 24.11.2024.