Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786.
Jndem der Taubstumme, durch das Bedürfniß, sich andern verständlich zu machen, genöthigt wird, Zeichen zu erfinden, bei denen andere sich irgend ein Ganzes denken sollen, so wie er es sich dabei denkt, und indem er zu dem Ende irgend einen Theil eines Ganzen zum Zeichen des Ganzen macht -- so lernt er unvermerkt, das einzelne mit beständiger Rücksicht auf das Ganze, und das Ganze mit beständiger Rücksicht auf das Einzelne, betrachten. -- Und daß wir dieß, sey es auch auf noch so verschiedene Weise, lernen -- scheinet doch der eigentliche Endzweck unsres Erdenlebens zu seyn. -- Kein denkendes Geschöpf, bei dem dieser Endzweck, sey es auch, auf welche Art es wolle, erreicht ist, scheint mir vernachläßiget zu seyn. -- Nehme ich dieses zum letzten Zweck bei der Schöpfung der Geisterwelt an, so lösen sich mir alle Räthsel in der moralischen Welt auf -- ich sehe nichts, als Plan, Ordnung und Zusammenhang, wo ich sonst nur zweckloses Streben, Unordnung und Verwirrung sahe. Jn diesem letzten großen Gesichtspunkte müssen alle übrigen zusammentreffen -- und jede andere Betrachtung muß sich in dieser verlieren. -- Es kömmt, in der allerletzten Rücksicht, nicht sowohl auf den Gegenstand des Denkens, als
Jndem der Taubstumme, durch das Beduͤrfniß, sich andern verstaͤndlich zu machen, genoͤthigt wird, Zeichen zu erfinden, bei denen andere sich irgend ein Ganzes denken sollen, so wie er es sich dabei denkt, und indem er zu dem Ende irgend einen Theil eines Ganzen zum Zeichen des Ganzen macht — so lernt er unvermerkt, das einzelne mit bestaͤndiger Ruͤcksicht auf das Ganze, und das Ganze mit bestaͤndiger Ruͤcksicht auf das Einzelne, betrachten. — Und daß wir dieß, sey es auch auf noch so verschiedene Weise, lernen — scheinet doch der eigentliche Endzweck unsres Erdenlebens zu seyn. — Kein denkendes Geschoͤpf, bei dem dieser Endzweck, sey es auch, auf welche Art es wolle, erreicht ist, scheint mir vernachlaͤßiget zu seyn. — Nehme ich dieses zum letzten Zweck bei der Schoͤpfung der Geisterwelt an, so loͤsen sich mir alle Raͤthsel in der moralischen Welt auf — ich sehe nichts, als Plan, Ordnung und Zusammenhang, wo ich sonst nur zweckloses Streben, Unordnung und Verwirrung sahe. Jn diesem letzten großen Gesichtspunkte muͤssen alle uͤbrigen zusammentreffen — und jede andere Betrachtung muß sich in dieser verlieren. — Es koͤmmt, in der allerletzten Ruͤcksicht, nicht sowohl auf den Gegenstand des Denkens, als <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0023" n="23"/><lb/> auf Erhoͤhung derselben ankoͤmmt, so ist es gleichviel, wodurch sie erhoͤht wird. — </p> <p>Jndem der Taubstumme, durch das Beduͤrfniß, sich andern verstaͤndlich zu machen, genoͤthigt wird, Zeichen zu erfinden, bei denen andere sich irgend ein Ganzes denken sollen, so wie er es sich dabei denkt, und indem er zu dem Ende irgend einen Theil eines Ganzen zum Zeichen des Ganzen macht — so lernt er unvermerkt, <hi rendition="#b">das einzelne mit bestaͤndiger Ruͤcksicht auf das Ganze, und das Ganze mit bestaͤndiger Ruͤcksicht auf das Einzelne,</hi> betrachten. — <hi rendition="#b">Und daß wir dieß, sey es auch auf noch so verschiedene Weise, lernen</hi> — <hi rendition="#b">scheinet doch der eigentliche Endzweck unsres Erdenlebens zu seyn.</hi> — </p> <p><hi rendition="#b">Kein denkendes Geschoͤpf, bei dem dieser Endzweck, sey es auch, auf welche Art es wolle, erreicht ist, scheint mir vernachlaͤßiget zu seyn.</hi> — </p> <p> <hi rendition="#b">Nehme ich dieses zum letzten Zweck bei der Schoͤpfung der Geisterwelt an, so loͤsen sich mir alle Raͤthsel in der moralischen Welt auf — ich sehe nichts, als Plan, Ordnung und Zusammenhang, wo ich sonst nur zweckloses Streben, Unordnung und Verwirrung sahe.</hi> </p> <p>Jn diesem letzten großen Gesichtspunkte muͤssen alle uͤbrigen zusammentreffen — und jede andere Betrachtung muß sich in dieser verlieren. — </p> <p>Es koͤmmt, <hi rendition="#b">in der allerletzten Ruͤcksicht,</hi> nicht sowohl auf den Gegenstand des Denkens, als<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [23/0023]
auf Erhoͤhung derselben ankoͤmmt, so ist es gleichviel, wodurch sie erhoͤht wird. —
Jndem der Taubstumme, durch das Beduͤrfniß, sich andern verstaͤndlich zu machen, genoͤthigt wird, Zeichen zu erfinden, bei denen andere sich irgend ein Ganzes denken sollen, so wie er es sich dabei denkt, und indem er zu dem Ende irgend einen Theil eines Ganzen zum Zeichen des Ganzen macht — so lernt er unvermerkt, das einzelne mit bestaͤndiger Ruͤcksicht auf das Ganze, und das Ganze mit bestaͤndiger Ruͤcksicht auf das Einzelne, betrachten. — Und daß wir dieß, sey es auch auf noch so verschiedene Weise, lernen — scheinet doch der eigentliche Endzweck unsres Erdenlebens zu seyn. —
Kein denkendes Geschoͤpf, bei dem dieser Endzweck, sey es auch, auf welche Art es wolle, erreicht ist, scheint mir vernachlaͤßiget zu seyn. —
Nehme ich dieses zum letzten Zweck bei der Schoͤpfung der Geisterwelt an, so loͤsen sich mir alle Raͤthsel in der moralischen Welt auf — ich sehe nichts, als Plan, Ordnung und Zusammenhang, wo ich sonst nur zweckloses Streben, Unordnung und Verwirrung sahe.
Jn diesem letzten großen Gesichtspunkte muͤssen alle uͤbrigen zusammentreffen — und jede andere Betrachtung muß sich in dieser verlieren. —
Es koͤmmt, in der allerletzten Ruͤcksicht, nicht sowohl auf den Gegenstand des Denkens, als
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0402_1786 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0402_1786/23 |
Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0402_1786/23>, abgerufen am 16.02.2025. |