Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786.Dieß erhabne Werkzeug des Denkens ist nun gleichsam aus der Seele des Taubstummen herausgenommen -- was ist an dessen Stelle gesetzt? -- Jst es etwas von dem ungeheuren Umfange der chinesischen Bilderschrift ähnliches, statt der simpeln Buchstabenschrift? -- So müßte es dem Taubstummen eben so erstaunlich schwer werden, jemals schnell und geläufig zu denken, als dem Chineser schnell und geläufig zu schreiben und zu lesen. -- Das Werkzeug des Denkens bei dem Taubstummen würde stets zu unbehülflich bleiben, sich der umgebenden Welt damit zu bemächtigen -- die umgebende Welt würde sich vielmehr seiner bemächtigen, sie würde sich mehr in ihm darstellen, als daß er sich dieselbe vorstellte. -- Seine Denkkraft verhielte sich immer mehr leidend, als thätig. -- Wie soll sie sich unter diesem Druck, unter diesem Mangel emporarbeiten -- auf welche Art wird die Denkkraft in dem ganzen Leben eines Taubstummen erhöht? Sie kann nicht anders erhöht werden, als durch ein beständiges Streben nach Simplifizirung der Zeichen, vermöge deren der Taubstumme, die ihn umgebende Welt in seinem Kopfe zu ordnen sucht -- erlangt er nun gleich durch dieses Streben nie seinen Zweck, so ist doch dieß unwillkührliche Streben selbst schon eine unmerkliche Uebung der Denkkraft -- und wenn es vorzüglich Dieß erhabne Werkzeug des Denkens ist nun gleichsam aus der Seele des Taubstummen herausgenommen — was ist an dessen Stelle gesetzt? — Jst es etwas von dem ungeheuren Umfange der chinesischen Bilderschrift aͤhnliches, statt der simpeln Buchstabenschrift? — So muͤßte es dem Taubstummen eben so erstaunlich schwer werden, jemals schnell und gelaͤufig zu denken, als dem Chineser schnell und gelaͤufig zu schreiben und zu lesen. — Das Werkzeug des Denkens bei dem Taubstummen wuͤrde stets zu unbehuͤlflich bleiben, sich der umgebenden Welt damit zu bemaͤchtigen — die umgebende Welt wuͤrde sich vielmehr seiner bemaͤchtigen, sie wuͤrde sich mehr in ihm darstellen, als daß er sich dieselbe vorstellte. — Seine Denkkraft verhielte sich immer mehr leidend, als thaͤtig. — Wie soll sie sich unter diesem Druck, unter diesem Mangel emporarbeiten — auf welche Art wird die Denkkraft in dem ganzen Leben eines Taubstummen erhoͤht? Sie kann nicht anders erhoͤht werden, als durch ein bestaͤndiges Streben nach Simplifizirung der Zeichen, vermoͤge deren der Taubstumme, die ihn umgebende Welt in seinem Kopfe zu ordnen sucht — erlangt er nun gleich durch dieses Streben nie seinen Zweck, so ist doch dieß unwillkuͤhrliche Streben selbst schon eine unmerkliche Uebung der Denkkraft — und wenn es vorzuͤglich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0022" n="22"/><lb/> <p>Dieß erhabne Werkzeug des Denkens ist nun gleichsam aus der Seele des Taubstummen herausgenommen — was ist an dessen Stelle gesetzt? — </p> <p>Jst es etwas von dem ungeheuren Umfange der chinesischen Bilderschrift aͤhnliches, statt der simpeln Buchstabenschrift? — </p> <p>So muͤßte es dem Taubstummen eben so erstaunlich schwer werden, jemals schnell und gelaͤufig zu denken, als dem Chineser schnell und gelaͤufig zu schreiben und zu lesen. — </p> <p>Das Werkzeug des Denkens bei dem Taubstummen wuͤrde stets zu unbehuͤlflich bleiben, sich der umgebenden Welt damit zu bemaͤchtigen — die umgebende Welt wuͤrde sich vielmehr seiner bemaͤchtigen, sie wuͤrde <hi rendition="#b">sich mehr in ihm darstellen,</hi> als daß er <hi rendition="#b">sich dieselbe vorstellte.</hi> — Seine Denkkraft verhielte sich immer mehr leidend, als thaͤtig. — Wie soll sie sich unter diesem Druck, unter diesem Mangel emporarbeiten — auf welche Art wird die Denkkraft in dem ganzen Leben eines Taubstummen erhoͤht? </p> <p>Sie kann nicht anders erhoͤht werden, als <hi rendition="#b">durch ein bestaͤndiges Streben nach Simplifizirung der Zeichen,</hi> vermoͤge deren der Taubstumme, die ihn umgebende Welt in seinem Kopfe zu ordnen sucht — erlangt er nun gleich durch dieses Streben nie seinen Zweck, so ist doch dieß unwillkuͤhrliche Streben selbst schon eine unmerkliche Uebung der Denkkraft — und wenn es vorzuͤglich<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [22/0022]
Dieß erhabne Werkzeug des Denkens ist nun gleichsam aus der Seele des Taubstummen herausgenommen — was ist an dessen Stelle gesetzt? —
Jst es etwas von dem ungeheuren Umfange der chinesischen Bilderschrift aͤhnliches, statt der simpeln Buchstabenschrift? —
So muͤßte es dem Taubstummen eben so erstaunlich schwer werden, jemals schnell und gelaͤufig zu denken, als dem Chineser schnell und gelaͤufig zu schreiben und zu lesen. —
Das Werkzeug des Denkens bei dem Taubstummen wuͤrde stets zu unbehuͤlflich bleiben, sich der umgebenden Welt damit zu bemaͤchtigen — die umgebende Welt wuͤrde sich vielmehr seiner bemaͤchtigen, sie wuͤrde sich mehr in ihm darstellen, als daß er sich dieselbe vorstellte. — Seine Denkkraft verhielte sich immer mehr leidend, als thaͤtig. — Wie soll sie sich unter diesem Druck, unter diesem Mangel emporarbeiten — auf welche Art wird die Denkkraft in dem ganzen Leben eines Taubstummen erhoͤht?
Sie kann nicht anders erhoͤht werden, als durch ein bestaͤndiges Streben nach Simplifizirung der Zeichen, vermoͤge deren der Taubstumme, die ihn umgebende Welt in seinem Kopfe zu ordnen sucht — erlangt er nun gleich durch dieses Streben nie seinen Zweck, so ist doch dieß unwillkuͤhrliche Streben selbst schon eine unmerkliche Uebung der Denkkraft — und wenn es vorzuͤglich
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0402_1786/22>, abgerufen am 16.02.2025. |