Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785.

Bild:
<< vorherige Seite


bewundert man die Jdeale von Vollkommenheit und Grösse, als ursprünglich zusammengesetzte Bruchstücke aus der Menschenwelt, bald erstaunt man, bei geringer Aufmerksamkeit, über die mannichfaltigen zurückschreckenden Schattirungen und Beispiele in derselben, welche die Bemühungen des Seelenzeichners immer Ungewisser machen.

Giebt es nicht Menschen, die mit stürmender Hand ihren eignen Körper zerstören; schleichen nicht in gewissen Ländern Ungeheuer in Menschengestalt umher, die nie vorhergesehene Fremde, von welchen sie nie sind beleidiget worden, wie Fliegen tödten*). Noch mehr: Selbst die heiligsten Bande der Natur, scheint es, sind dem Menschen oft nicht fest genug, er zerreißt sie, wie der Knabe ein Spinnengewebe.

Doch zurück auf mich selbst, ich muß in meinen eignen Busen fühlen. Wie ist es überall möglich,

*) Bei uns ist der Mord ein Vorwurf der verbietenden Moral, nicht so bei allen Völkern. Bei den Türken wird der Meuchelmord belacht, bewundert, sogar begünstiget. Jn Jtalien nennt man die Meuchelmörder bravos. -- Oft scheint es, werden die Rechte der Menschheit mit den Rechten der Sprache zugleich gekränkt. So wie eine Nation an Simplicität verliert, so kommen auch die besten Wörter und Redensarten bei ihr in üblen Ruf und Bedeutung. Das Heilige wird profan. Um also in den Gemeingeist einer Nation tief einzudringen, muß man nothwendig auch ihre Sprache in psychologischer Rücksicht studiren.


bewundert man die Jdeale von Vollkommenheit und Groͤsse, als urspruͤnglich zusammengesetzte Bruchstuͤcke aus der Menschenwelt, bald erstaunt man, bei geringer Aufmerksamkeit, uͤber die mannichfaltigen zuruͤckschreckenden Schattirungen und Beispiele in derselben, welche die Bemuͤhungen des Seelenzeichners immer Ungewisser machen.

Giebt es nicht Menschen, die mit stuͤrmender Hand ihren eignen Koͤrper zerstoͤren; schleichen nicht in gewissen Laͤndern Ungeheuer in Menschengestalt umher, die nie vorhergesehene Fremde, von welchen sie nie sind beleidiget worden, wie Fliegen toͤdten*). Noch mehr: Selbst die heiligsten Bande der Natur, scheint es, sind dem Menschen oft nicht fest genug, er zerreißt sie, wie der Knabe ein Spinnengewebe.

Doch zuruͤck auf mich selbst, ich muß in meinen eignen Busen fuͤhlen. Wie ist es uͤberall moͤglich,

*) Bei uns ist der Mord ein Vorwurf der verbietenden Moral, nicht so bei allen Voͤlkern. Bei den Tuͤrken wird der Meuchelmord belacht, bewundert, sogar beguͤnstiget. Jn Jtalien nennt man die Meuchelmoͤrder bravos. — Oft scheint es, werden die Rechte der Menschheit mit den Rechten der Sprache zugleich gekraͤnkt. So wie eine Nation an Simplicitaͤt verliert, so kommen auch die besten Woͤrter und Redensarten bei ihr in uͤblen Ruf und Bedeutung. Das Heilige wird profan. Um also in den Gemeingeist einer Nation tief einzudringen, muß man nothwendig auch ihre Sprache in psychologischer Ruͤcksicht studiren.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0062" n="62"/><lb/>
bewundert man die Jdeale von Vollkommenheit und                   Gro&#x0364;sse, als urspru&#x0364;nglich zusammengesetzte Bruchstu&#x0364;cke aus der Menschenwelt, bald                   erstaunt man, bei geringer Aufmerksamkeit, u&#x0364;ber die mannichfaltigen                   zuru&#x0364;ckschreckenden Schattirungen und Beispiele in derselben, welche die Bemu&#x0364;hungen                   des Seelenzeichners immer Ungewisser machen. </p>
            <p>Giebt es nicht Menschen, die mit stu&#x0364;rmender Hand ihren eignen Ko&#x0364;rper zersto&#x0364;ren;                   schleichen nicht in gewissen La&#x0364;ndern Ungeheuer in Menschengestalt umher, die nie                   vorhergesehene Fremde, von welchen sie nie sind beleidiget worden, wie Fliegen                      to&#x0364;dten*)<note place="foot"><p>*) Bei uns ist der Mord ein Vorwurf der                         verbietenden Moral, nicht so bei allen Vo&#x0364;lkern. Bei den Tu&#x0364;rken wird der                         Meuchelmord belacht, bewundert, sogar begu&#x0364;nstiget. Jn Jtalien nennt man die                         Meuchelmo&#x0364;rder bravos. &#x2014; Oft scheint es, werden die Rechte der Menschheit mit                         den Rechten der Sprache zugleich gekra&#x0364;nkt. So wie eine Nation an Simplicita&#x0364;t                         verliert, so kommen auch die besten Wo&#x0364;rter und Redensarten bei ihr in u&#x0364;blen                         Ruf und Bedeutung. Das Heilige wird profan. Um also in den Gemeingeist einer                         Nation tief einzudringen, muß man nothwendig auch ihre Sprache in                         psychologischer Ru&#x0364;cksicht studiren.</p></note>. Noch mehr: Selbst die                   heiligsten Bande der Natur, scheint es, sind dem Menschen oft nicht fest genug, er                   zerreißt sie, wie der Knabe ein Spinnengewebe. </p>
            <p>Doch zuru&#x0364;ck auf mich selbst, ich muß in meinen eignen Busen fu&#x0364;hlen. Wie ist es                   u&#x0364;berall mo&#x0364;glich,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[62/0062] bewundert man die Jdeale von Vollkommenheit und Groͤsse, als urspruͤnglich zusammengesetzte Bruchstuͤcke aus der Menschenwelt, bald erstaunt man, bei geringer Aufmerksamkeit, uͤber die mannichfaltigen zuruͤckschreckenden Schattirungen und Beispiele in derselben, welche die Bemuͤhungen des Seelenzeichners immer Ungewisser machen. Giebt es nicht Menschen, die mit stuͤrmender Hand ihren eignen Koͤrper zerstoͤren; schleichen nicht in gewissen Laͤndern Ungeheuer in Menschengestalt umher, die nie vorhergesehene Fremde, von welchen sie nie sind beleidiget worden, wie Fliegen toͤdten*) . Noch mehr: Selbst die heiligsten Bande der Natur, scheint es, sind dem Menschen oft nicht fest genug, er zerreißt sie, wie der Knabe ein Spinnengewebe. Doch zuruͤck auf mich selbst, ich muß in meinen eignen Busen fuͤhlen. Wie ist es uͤberall moͤglich, *) Bei uns ist der Mord ein Vorwurf der verbietenden Moral, nicht so bei allen Voͤlkern. Bei den Tuͤrken wird der Meuchelmord belacht, bewundert, sogar beguͤnstiget. Jn Jtalien nennt man die Meuchelmoͤrder bravos. — Oft scheint es, werden die Rechte der Menschheit mit den Rechten der Sprache zugleich gekraͤnkt. So wie eine Nation an Simplicitaͤt verliert, so kommen auch die besten Woͤrter und Redensarten bei ihr in uͤblen Ruf und Bedeutung. Das Heilige wird profan. Um also in den Gemeingeist einer Nation tief einzudringen, muß man nothwendig auch ihre Sprache in psychologischer Ruͤcksicht studiren.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0303_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0303_1785/62
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0303_1785/62>, abgerufen am 04.05.2024.