Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785.
Einzig ist diese Erscheinung am Horizont der Psychologen. Und doch darf man nur das gegenseitige Betragen mehrerer Brüder, ohne Vorurtheil, beobachten, um in solchen psychologischen Untersuchungen sicher zu gehen, indem man von der Natur der Bruderliebe richtiger, d.i. erfahrungsmäßig urtheilen lernt. Sie ist in den erstern Jahren am herzlichsten, so bald sich aber der Knabe selbst mehr fühlt, erweitert er seinen Spielraum, zieht mehrere hinein -- hierher meine Geschichte -- bis irgend ein gemeinschaftliches Jnteresse und die Rückerinnerung an die Jahre der fröhlichen Kinderspiele, die Bruderliebe in spätern wieder entflammt. Es wäre wohl, dünkt mich, einer ge-
Einzig ist diese Erscheinung am Horizont der Psychologen. Und doch darf man nur das gegenseitige Betragen mehrerer Bruͤder, ohne Vorurtheil, beobachten, um in solchen psychologischen Untersuchungen sicher zu gehen, indem man von der Natur der Bruderliebe richtiger, d.i. erfahrungsmaͤßig urtheilen lernt. Sie ist in den erstern Jahren am herzlichsten, so bald sich aber der Knabe selbst mehr fuͤhlt, erweitert er seinen Spielraum, zieht mehrere hinein — hierher meine Geschichte — bis irgend ein gemeinschaftliches Jnteresse und die Ruͤckerinnerung an die Jahre der froͤhlichen Kinderspiele, die Bruderliebe in spaͤtern wieder entflammt. Es waͤre wohl, duͤnkt mich, einer ge- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0063" n="63"/><lb/> daß ein Bruder der Moͤrder des andern werden konnte, moͤglich, daß die Hand des Aeltesten, sich mit dem Blute des Juͤngsten, unter welchen doch das Band der Liebe oft am engsten geknuͤpft zu seyn scheint, beflecken sollte? — Jch muß gestehn, daß ich mir diese Frage oft, mit Ruͤcksicht auf jene traurige Selbsterfahrung, aufgeworfen habe. Ja, waͤre ich es mir nur nicht noch so lebhaft bewußt, wie viel mir dieser anhaltende Seelenkampf gekostet hat, ich wuͤrde lieber diesen Einfall als einen Gedanken, der mir so durch den Kopf gefahren, ganz verachtet haben. Das waͤre ich schon mir schuldig gewesen, und der Ehre der Menschheit, deren Schwachheiten, oder wenn man lieber will, Schandflecke ohne Noth zu vermehren, vermeßner Frevel ist. </p> <p>Einzig ist diese Erscheinung am Horizont der Psychologen. Und doch darf man nur das gegenseitige Betragen mehrerer Bruͤder, ohne Vorurtheil, beobachten, um in solchen psychologischen Untersuchungen sicher zu gehen, indem man von der Natur der Bruderliebe richtiger, d.i. erfahrungsmaͤßig urtheilen lernt. Sie ist in den erstern Jahren am herzlichsten, so bald sich aber der Knabe selbst mehr fuͤhlt, erweitert er seinen Spielraum, zieht mehrere hinein — hierher meine Geschichte — bis irgend ein gemeinschaftliches Jnteresse und die Ruͤckerinnerung an die Jahre der froͤhlichen Kinderspiele, die Bruderliebe in spaͤtern wieder entflammt. Es waͤre wohl, duͤnkt mich, einer ge-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [63/0063]
daß ein Bruder der Moͤrder des andern werden konnte, moͤglich, daß die Hand des Aeltesten, sich mit dem Blute des Juͤngsten, unter welchen doch das Band der Liebe oft am engsten geknuͤpft zu seyn scheint, beflecken sollte? — Jch muß gestehn, daß ich mir diese Frage oft, mit Ruͤcksicht auf jene traurige Selbsterfahrung, aufgeworfen habe. Ja, waͤre ich es mir nur nicht noch so lebhaft bewußt, wie viel mir dieser anhaltende Seelenkampf gekostet hat, ich wuͤrde lieber diesen Einfall als einen Gedanken, der mir so durch den Kopf gefahren, ganz verachtet haben. Das waͤre ich schon mir schuldig gewesen, und der Ehre der Menschheit, deren Schwachheiten, oder wenn man lieber will, Schandflecke ohne Noth zu vermehren, vermeßner Frevel ist.
Einzig ist diese Erscheinung am Horizont der Psychologen. Und doch darf man nur das gegenseitige Betragen mehrerer Bruͤder, ohne Vorurtheil, beobachten, um in solchen psychologischen Untersuchungen sicher zu gehen, indem man von der Natur der Bruderliebe richtiger, d.i. erfahrungsmaͤßig urtheilen lernt. Sie ist in den erstern Jahren am herzlichsten, so bald sich aber der Knabe selbst mehr fuͤhlt, erweitert er seinen Spielraum, zieht mehrere hinein — hierher meine Geschichte — bis irgend ein gemeinschaftliches Jnteresse und die Ruͤckerinnerung an die Jahre der froͤhlichen Kinderspiele, die Bruderliebe in spaͤtern wieder entflammt. Es waͤre wohl, duͤnkt mich, einer ge-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0303_1785 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0303_1785/63 |
Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0303_1785/63>, abgerufen am 18.07.2024. |