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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785.

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Jst aber die Seele nur im allerfeinsten Verstande materiel, so läßt sich der Traum schon hören, und wenigstens soviel daraus abziehen, daß die ersten Eindrücke, die die Seele durch irgend einen Sinn auffast, sehr mächtig seyn müssen.

Die Empfindungen, in den ersten Jahren erweckt und hervorgebracht, halten sich sehr lange, und sie lassen sich mindern, auf einen andern Zweck leiten, aber, wie ich glaube, nie ganz aufheben. Es bleibt gewiß immer etwas übrig, was wir aus unsern Jugendjahren ins reifere Alter mit hinübernehmen, eine Art der Empfindung, der Neigung, eine gewisse Form zu denken und die Gegenstände unserm Denken und Empfinden anzupassen, die, sie mag auch mit der Zeit noch so künstlich modificirt worden seyn, doch immer den scharfsichtigen Beobachter das erste Jugendgepräge unverkennbar bemerken läßt. Die Schwärmerei in der Liebe, z.B. die das Herz eines Jünglings ansteckt, der von einiger lebhaften Empfindung ist, kann nach mehrern Jahren zu erkalten scheinen; ja, er kann es sogar dahin bringen, alles das, was ihm ehemals so heilig und von seiner Glückseeligkeit so unzertrennlich schien, nun im vollen Ernst lächerlich zu finden, und auf Empfindeley und platonische Seelenschwärmerey Epigrammen zu machen; aber man glaube ja nicht, daß nun seine Empfindsamkeit ganz aufgehört hat, und aus ihm ein ganz anderes We-


Jst aber die Seele nur im allerfeinsten Verstande materiel, so laͤßt sich der Traum schon hoͤren, und wenigstens soviel daraus abziehen, daß die ersten Eindruͤcke, die die Seele durch irgend einen Sinn auffast, sehr maͤchtig seyn muͤssen.

Die Empfindungen, in den ersten Jahren erweckt und hervorgebracht, halten sich sehr lange, und sie lassen sich mindern, auf einen andern Zweck leiten, aber, wie ich glaube, nie ganz aufheben. Es bleibt gewiß immer etwas uͤbrig, was wir aus unsern Jugendjahren ins reifere Alter mit hinuͤbernehmen, eine Art der Empfindung, der Neigung, eine gewisse Form zu denken und die Gegenstaͤnde unserm Denken und Empfinden anzupassen, die, sie mag auch mit der Zeit noch so kuͤnstlich modificirt worden seyn, doch immer den scharfsichtigen Beobachter das erste Jugendgepraͤge unverkennbar bemerken laͤßt. Die Schwaͤrmerei in der Liebe, z.B. die das Herz eines Juͤnglings ansteckt, der von einiger lebhaften Empfindung ist, kann nach mehrern Jahren zu erkalten scheinen; ja, er kann es sogar dahin bringen, alles das, was ihm ehemals so heilig und von seiner Gluͤckseeligkeit so unzertrennlich schien, nun im vollen Ernst laͤcherlich zu finden, und auf Empfindeley und platonische Seelenschwaͤrmerey Epigrammen zu machen; aber man glaube ja nicht, daß nun seine Empfindsamkeit ganz aufgehoͤrt hat, und aus ihm ein ganz anderes We-

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[99/0099] Jst aber die Seele nur im allerfeinsten Verstande materiel, so laͤßt sich der Traum schon hoͤren, und wenigstens soviel daraus abziehen, daß die ersten Eindruͤcke, die die Seele durch irgend einen Sinn auffast, sehr maͤchtig seyn muͤssen. Die Empfindungen, in den ersten Jahren erweckt und hervorgebracht, halten sich sehr lange, und sie lassen sich mindern, auf einen andern Zweck leiten, aber, wie ich glaube, nie ganz aufheben. Es bleibt gewiß immer etwas uͤbrig, was wir aus unsern Jugendjahren ins reifere Alter mit hinuͤbernehmen, eine Art der Empfindung, der Neigung, eine gewisse Form zu denken und die Gegenstaͤnde unserm Denken und Empfinden anzupassen, die, sie mag auch mit der Zeit noch so kuͤnstlich modificirt worden seyn, doch immer den scharfsichtigen Beobachter das erste Jugendgepraͤge unverkennbar bemerken laͤßt. Die Schwaͤrmerei in der Liebe, z.B. die das Herz eines Juͤnglings ansteckt, der von einiger lebhaften Empfindung ist, kann nach mehrern Jahren zu erkalten scheinen; ja, er kann es sogar dahin bringen, alles das, was ihm ehemals so heilig und von seiner Gluͤckseeligkeit so unzertrennlich schien, nun im vollen Ernst laͤcherlich zu finden, und auf Empfindeley und platonische Seelenschwaͤrmerey Epigrammen zu machen; aber man glaube ja nicht, daß nun seine Empfindsamkeit ganz aufgehoͤrt hat, und aus ihm ein ganz anderes We-

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0302_1785/99>, abgerufen am 19.08.2024.