I. Jakob Varmeier, Evers, Karl Friedrich (ein Moͤrder nach einem apocryphischen Buche in der Bibel.)
Jakob Varmeier, aus Osnabruͤck in Westphalen gebuͤrtig, dessen Vater gleichfalls Jakob genannt, Licentiatus Juris und Praktikus, wie auch Rath- und Gaugraf im Dienste des Bischofs daselbst war, widmete sich den Wissenschaften, und, nachdem er die Schule seines Geburtsorts verlassen, der Rechtsgelahrtheit anfaͤnglich zu Helmstaͤdt zwei Jahre, hernach aber von Anno 1614 zu Rostock, uͤbte
sich hiernaͤchst im Disputiren, las Kollegia und war, wegen seines Fleisses, guten Sitten, ehrbaren und frommen Wandels, bei Hohen und Niedrigen, besonders auch in Rostock, beliebt.
Die praktische Rechtsgelehrsamkeit desto naͤher kennen zu lernen und demnaͤchst in Ausuͤbung zu bringen, bewarb er sich um die Sekretairstelle bei dem der Zeit zu Sternberg befindlichen Hof- und Landgericht. Jhm ward solche im September 1626 uͤbertragen; jedoch, obgleich seine Vorgesetzten sehr wohl mit ihm zufrieden waren, resignirte er einige Zeit hernach, ging wieder nach Rostock, befaste sich mit der Advokatur und ward, etwa im Jahr 1630, in die Zahl der Kandidaten zur Doktorwuͤrde auf sein Ansuchen aufgenommen.
Jnzwischen hatte er sich — das Jahr ist aus den Akten nicht zu ersehen — verehliget, und wohnte nebst seiner Schwiegermutter zu Rostock in einem ihr eigenthuͤmlichen Hause am Markte.
Sein Gemuͤthscharakter — dieser hat in die Folge der Geschichte einen zu wichtigen Einfluß, als daß er unberuͤhrt bleiben koͤnnte. Schon in den kindlichen Jahren war er von seinen Bruͤdern durch sein bloͤdes und melancholisches Temperament sehr abstechend, dahero er auch alle rauschende Spiele der Jugend vermied.
Beunruhigende Gedanken machten seine Naͤchte schlaflos. Waͤhrend des Auffenthalts bei seinem
Oheim, der Sekretaͤr in Luͤbeck war, etwa im Jahr 1622 nahm seine Schwermuth so sehr uͤberhand, daß er sogar bei einer Promenade auf dem Walle, waͤre er nicht daran verhindert, sich davon gestuͤrzet, oder sonst etwas gefaͤhrliches vorgenommen haͤtte, welches veranlaßte, daß jener mit ihm nach Osnabruͤck zu seinen Eltern reisete, woselbst seine Krankheit noch eine ziemliche Zeit angehalten, welche ihn denn auch fast zu allen Dingen verdrossen und oft untuͤchtig machte.
Denn kaum hatte er im Jahr 1624 zu Neuenkloster die Hofmeisterstelle bei zwei adelichen Knaben von Powisch angenommen, als er sie schon wieder nach drei Wochen verließ; waͤhrend seiner Hofgerichtsbedienung uͤberfiel ihn abermal der Paroxismus und veranlassete sein Dimissionsgesuch; selbst der Vorsatz, wegen seiner Promotion ward durch melancholische Rezidive von Zeit zu Zeit verzoͤgert; von schwermuͤthigen Gedanken gequaͤlet, verzweifelte er zuweilen an seiner Seeligkeit, war darin einem Kinde gleich, bildete sich ein, er koͤnne nicht sprechen, oder etwas zu Papier bringen, wesfalls, waͤre er nicht in solchen Anfaͤllen von seinem Beichtvater und guten Freunden getroͤstet, die Verzweiflung ihn leicht ganz dahin gerissen haben moͤchte.
Jn dieser traurigen Situation befand er sich sehr oft, besonders in den letzten Jahren, vielleicht
auch in dem schrecklichsten Zeitpunkte seines Lebens, welchem ich mich jetzo naͤhere.
Schon oben ist bemerket, daß er bei seiner Schwiegermutter seine Wohnung gehabt. Dieses bequeme und am Markte in Rostock belegene Haus war fuͤr den dasigen Kommendanten, den Kaiserl. Obristen Heinrich Ludwig von Hazfeld zum Quartier ausersehen, daher er und seine Schwiegermutter auf Verlangen des Magistrats solches raͤumen mußten. Hiedurch, vielleicht auch durch seine Wissenschaften, wovon der Obriste ein Liebhaber war, erhielt er Gelegenheit, dessen Bekanntschaft und Zutrauen sich zu erwerben, so daß er die Erlaubniß hatte, unangemeldet zu ihm kommen zu duͤrfen. Ungluͤckliche Erlaubniß!
Jm Jahr 1631 den 20sten Januar Donnerstags in der Nacht erwachte Jakob Varmeier um 12 Uhr mit den Gedanken, wegen des betruͤbten Kriegswesens und daß Gott den Obristen von Hazfeld durch einen schleunigen Tod von dieser Welt abfodern wollte, wobei ein grausamer Antrieb, welchen er, auch unter der Marter, fuͤr eine goͤttliche Eingebung, vel singularem Inspirationem divinam hielt, daß jene That durch ihn geschehen sollte, sich seiner ganzen Seele bemaͤchtigte.
Gebet, Seufzen und Thraͤnen, sowohl in dieser Nacht, als nachher, solcher Gedanken und deren Ausfuͤhrung uͤberhoben zu seyn, konnten den oͤfteren Antrieb dazu nicht hemmen, vielmehr ver-
spuͤrte er Tages darauf, den 21sten d.M., als er sich vorgenommen, seinen Beichtvater hieruͤber zu Rathe ziehen, eine neue sogenannte Jnstruktion, daß es niemand vor vollbrachter That wissen und er solche verrichten muͤste.
Um 1 Uhr bemerkten Tages verfuͤgte er sich zu dem Obristen von Hazfeld in der alleinigen Absicht, Schuzbriefe fuͤr einige Personen zu bewirken. Verweilte in dem Vorgemache bei dem Zimmer desselben, und mit dem Gedanken oder Antriebe, daß die That durch ihn und mit keinem andern Jnstrument, als einem Beile, geschehen muͤste, beschaͤftiget, erblickte er im Gebet und Weggehen drei neue Beile vor dem Fenster, nahm das groͤßte davon zu sich, jedoch mit dem Vorsatze, wenn Gott ihn von diesem Gedanken befreiet haͤtte, solches wieder dahin zu bringen.
Bei seiner Ruͤckkunft erneuerte sich derselbe dahin, wie es von Gott beschlossen waͤre, daß er die Exekution an dem Obristen verrichten und den Stiel zum Beile auf seinem Hausboden finden wuͤrde; er fand solchen wuͤrklich daselbst voͤllig geschickt dazu und bevestigte ihn in dem Beile mit wiederholten Flehen zu Gott, es nicht dahin kommen zu lassen.
Selbst der Anblick der Bibel auf seinem Zimmer vermehrte den Enthusiasmus; er las die Mordgeschichte Holofernes zu dreienmalen und exzerpirte einige Stellen aus dem Buche Judith Cap. 8,28. Cap.9,2-15. Cap. 10,9. Cap. 13,6.
und Cap. 16,16-21. mit Veraͤnderung etlicher Worte, als statt Jerusalem, Rostock; statt Holofernes, Obrister; und statt ihr, mich; wobei er sich zwar den Zweifel machte, daß Holofernes ein Tyrann, der Obriste Hazfeld aber ein christlich frommer Herr, und ihr Beschuͤtzer waͤre, jedoch durch einen geheimen Trieb abermal die Antwort erhielte: »es waͤre gleichviel, Holofernes oder Hazfeld, er sollte nur die That, wie die Judith, ohne Wissen des Predigers noch eines andern Menschen, verrichten und nicht dafuͤr halten, daß es sein, oder eines Menschen, sondern Gottes Werk waͤre.«
Mit Beten und Fasten, um damit verschont zu bleiben, brachte er diesen und den folgenden Tag zu, allein auch in der Nacht darauf und am Sonnabend fruͤhe — war der 22ste Januar — erneuerte sich der Antrieb, daß es nemlich noch an diesem Tage geschehen muͤste, weil es nicht sein, sondern ein allgemeines Stadt- und Landwerk waͤre. Er entwarf demnach folgende Gebetsformel:
»Es wird begehret, ein christliches Gebet zu thun fuͤr eine hochwichtige Sache, die Gottes Ehre und dieses ganzen Landes Wohlfahrt betrifft, welches im Namen der heiligen Dreifaltigkeit forderlichst zu traktiren obhanden ist. Der Allerhoͤchste wolle dieselbe zu seines heiligen Namens Ehre, Wiedererlangung des lieben Friedens und der bedraͤngten Christenheit Aushelfung maͤch-
tiglich dirigiren und ausschlagen lassen, um des himmlischen Friede-Fuͤrsten Jesu Christi willen. Amen.«
und ließ selbige dem Prediger Deutsch bei der Heiligengeistkirche mit dem Ersuchen, solche von der Kanzel abzulesen, einhaͤndigen, welcher es aber wohlbedaͤchtlich unterließ.
Nun ruͤckte die scheußliche Stunde heran, in welcher Schwaͤrmerei und Wahnsinn einen Mann, der stets ein Freund der Religion, von frommen und stillen Wandel, der nie ein Thier, geschweige denn Menschen zu beleidigen faͤhig gewesen, zu einer mehr als barbarischen That muthig und vermoͤgend machten. Am bemerkten Sonnabend, den 22sten Januar, fruͤhe um sieben Uhr ging Jakob Varmeier zu dem Obristen von Hazfeld in der Absicht, um vorberuͤhrte Paͤsse, oder Schuzbriefe abermal zu sollizitiren. Des Beils sich erinnernd steckte er solches, nebst einem Stuͤcke von einer Gardine, wiewohl erschrocken und mit dem Gedanken, wenn Gott es nicht haben wollte, daß er das Beil wohl wider weg- oder ins Wasser werfen koͤnnte, unter dem linken Arm hinter den Guͤrtel.
Bei seiner Ankunft verweigerte der Page, ihn anzumelden, er bediente sich also der vom Obristen erhaltenen Freiheit, auch unangemeldet in sein Zimmer kommen zu duͤrfen, und zeigte demselben im Eintritte an, daß er wegen Paͤsse fuͤr Wittwen und Studenten kaͤme, auch sonsten etwas geheimes vorzutra-
gen haͤtte, mit Bitte, den am Tische sitzenden Sekretaͤr abtreten zu lassen.
Als solches geschehen, fing er von den Paͤssen an zu reden, grif auch, von dem vorigen Gedanken wiederum gereitzt, nach dem Beile, bedachte sich jedoch wieder, zu Gott seufzend, daß die That unterbleiben moͤchte. Jndem aber der Obrist nach dem Fenster sahe, und der Antrieb bei ihm heftiger ward, ergrif er mit der rechten Hand jenes Mordgewehr, hieb demselben zuerst uͤber den Kopf, ferner in den Hals, und da jener dadurch noch nicht voͤllig von dem Leibe getrennt war, schnitt er den uͤbrigen Theil des Halses voͤllig ab, wickelte den Kopf in das bei sich gesteckte Stuͤck der Gardine, ging damit, ohne von jemanden aufgehalten zu werden, uͤber den Markt in das sogenannte Roͤslersche Haus, warf Kopf und Beil daselbst auf den Hausboden, verfuͤgte sich hiernaͤchst in den Keller desselben, und legte sich allda in ein Bett, mit fleißigem Gebete und in der Meinung, der Krieg koͤnnte dadurch aufgehoben werden.
Dieses waͤre nun der ganze Zusammenhang einer so sonderbaren, als schrecklichen Handlung, welche ich aus seinem eigenen, ganz freiwillig abgelegten und unter aller Marter unveraͤndert wiederholten Bekenntnisse moͤglichst genau anzufuͤhren, zweckmaͤßig geachtet habe, um die Moralitaͤt derselben desto zutreffender beurtheilen zu koͤnnen.
Unmoͤglich konnte eine solche That, und eben so wenig der Thaͤter lange verborgen bleiben. Der Kaiserliche Obristlieutenant Golz von der Kron veranlaßte noch an selbigem Tage ein akademisches Patent, daß wer den Auffenthalt des Jakob Varmeiers wuͤste, solchen anzeigen, allenfalls auch, wo moͤglich, ihn persoͤnlich liefern sollte.
Die Kaiserliche Besatzung hatte inzwischen schon einige Gewaltthaͤtigkeiten ausgeuͤbet, jedoch der Thaͤter ward bald in seinem Zufluchtsorte, dem Roͤslerschen Keller, entdeckt und damit auch alle Unruhe in der Stadt gestillet. Bei seiner Arretirung hatte seine unbesonnene Widersetzlichkeit die Folge, daß er von der Wache uͤbel behandelt und verwundet wurde, und er ward nach dem sogenannten Zwinger vor dem Steinthore in Verhaft gebracht. Da er schon verschiedentlich extra Protocollum befragt worden und das ganze Faktum offenherzig gestanden hatte: so erfolgte das erste foͤrmliche Verhoͤr am 24. Januar Abends um 6 Uhr.
Er erzaͤhlte hierauf abermal und ungezwungen das ganze Faktum und dessen Veranlassung, so wie es schon oben aus diesem Protokoll angefuͤhrt worden, mit dem Beifuͤgen, daß er nach vollbrachter That, welche ihm zwar nicht lieb, jedoch von Gott befohlen waͤre, in diesem seinem Gefaͤngniß eine solche Erquickung im Herzen empfunden, als wenn er schon im Himmel gewesen und grosses Triumphiren und Jubiliren gehoͤrt haͤtte, er sollte nur einige
Zeit leiden und bald aus dem Elende hinweggerissen werden.
Alles dieß fand freilich bei seinen Richtern keinen Glauben, sie vermutheten vielmehr, daß der Haß, wegen des von dem Obristen Hazfeld bezogenen Hauses, oder auch andere Leute ihn dazu verleitet haͤtten; aber von beiden versicherte er das Gegentheil und besonders, daß kein Mensch etwas davon gewußt habe. Zwei Papiere hatte man gefunden, erstlich den obbemerkten Auszug aus dem Buche Judith, und ferner einen Gesang oder Gedicht auf des Koͤnigs von Schweden Ankunft in Deutschland, von acht Strophen, dessen Anfang: Nun kommt der betruͤbten Heiland etc.
Auch hieruͤber befragt, gestand er, den ersten geschrieben zu haben, zum Verfasser des letztern aber gab er bei diesem Verhoͤr einen Fremden an. Hierauf ward er dem Peiniger uͤbergeben, welcher ihm die spanischen Stiefeln anlegte und solche viermal, nach und nach staͤrker, anschrob, jedoch auch dadurch kein anderes Gestaͤndniß, noch weniger aber Mitschuldige von ihm erzwingen konnte.
Fuͤr diesesmal erlassen, ward Tages darauf, den 25sten Januar Nachmittags um drei Uhr das zweite Verhoͤr in seinem Gefaͤngnisse gehalten.
Auf alle an ihn geschehene Fragen antwortete er blosserdings wie zuvor, und daß diese That weder aus Haß, noch Antrieb eineseiniges Menschen ge-
schehen; er wuͤßte gar wohl, daß es Suͤnde und wider Gottes Gebot waͤre, jemanden am Leibe, Leben oder Gut zu beschaͤdigen, jedoch waͤre dieses ein extraordinarium, eine goͤttliche Eingebung und Befehl, dessen Vollziehung er durch sein oͤfteres Beten von sich nicht abwenden koͤnnen.
Selbst die bei diesem zweiten Verhoͤr widerholte Tortur, da er mit der Schraube auf dem linken Bein zu zweienmalen und sein Leib an unterschiedenen Orten derselben Seite, besonders auch der grosse Zehen des torquirten Fusses mit brennendem Schwefel gemartert wurde, konnte kein anders, ja nicht einmal das Gestaͤndniß, wie er diese That fuͤr Suͤnde hielte und sie bereuete, von ihm erpressen, weil er solche noch stets fuͤr einen Antrieb und Werk Gottes achtete, dem er nicht widerstehen koͤnnen.
Nunmehro wurden auch des Jnquisiten Schwiegermutter, Anna Schoͤnermarken, und seine Ehegattin, Sophia von Nessen, von den dazu abgeordneten Raͤthen in ihrer Behausung uͤber einige, besonders die Veranlassung dieses Verbrechens betreffende Fragen vernommen, welche jedoch nichts weiter darauf zu antworten wußten, als daß er in seinen vorherigen Anfaͤllen und um diese Zeit grosse Herzensangst empfunden; daß er immer und noch an dem Morgen, wie die That geschehen, mit gottseligen Gedanken und Ge-
bete sich beschaͤftiget; daß er keinesweges, wegen Raͤumung des Hauses, einigen Haß gegen den Obristen geheget, sondern vielmehr erstere getroͤstet.
Es waren schon am 30. Januar die vorbemerkten beiden Protokolle vom 24sten und 25sten d.M. das von ihm entworfene Kirchengebet und 22ster Jnquisitions-Artikel dem Jnquisiten abschriftlich zugestellt, um solche durchzusehen, weil er am 1sten Februar daruͤber jedoch nur guͤtlich und ohne Tortur vernommen worden. Die Raͤthe Meier und Wasmund, nebst zweien Kaiserlichen Hauptleuten und dem Prediger Zacharias Deutsch bei der Heiligengeistkirche, kamen am bestimmten Tage zu ihm; er wiederholte, daß das in dem Protokoll erzaͤhlte Faktum voͤllig der Wahrheit gemaͤß waͤre, besonders aber, daß kein Mensch zuvor einige Wissenschaft davon gehabt, und daß er weder aus Haß, Neid, boͤsem Vorsatze, wegen des Hauses, oder um Ehre und Gewinnst willen, noch in der Meinung, die Stadt dadurch von der Einquartierung zu befreien, jene That unternommen habe; er haͤtte auch vorhin nichts anders sagen koͤnnen, als daß es ex singulari inspiratione divina geschehen, zumal er sich allezeit der Gottesfurcht beflissen, fleißig gebetet und sich Gott befohlen haͤtte, waͤre also der Meinung gewesen, daß der Satan an ihm keine Macht haben koͤnne.
Jedoch da er am vorigen Mittwoch seines Beichtvaters, Constantin Fiedlers, Pastoren bei
der St. Marienkirche und dessen Kollegen Meinung daruͤber verlanget, auch von jenem belehret worden, daß es nicht aus Gottes Eingebung, sondern des boͤsen Feindes List und Antriebe geschehen waͤre, der auch, mit goͤttlicher Zulassung, die Allerheiligsten, wie den Koͤnig David, verfuͤhren koͤnnte, so haͤtte ihn Gott auf sein Gebet endlich erleuchtet, daß er nunmehro die That fuͤr Suͤnde hielte, selbige erkenne, und herzlich bereue. Die Jnquisitional-Artikel bejahete, oder verneinete er uͤbrigens, so ferne sie seinem vorigen und jetzigem Gestaͤndnisse gemaͤß oder zuwider, und bat sich am Schlusse einen Menschen aus, dem er etwas zu seiner Vertheidigung in ie Feder diktiren koͤnnte, weil es ihm wegen seiner Schwachheit und der Wunden am Arm unmoͤglich waͤre, aufzusetzen.
Die bis zu obigem Verhoͤr standhafte Aeusserung des Jnquisiten, daß er lediglich aus goͤttlicher Eingebung und Antrieb die Mordthat begangen, muste dem Wallensteinschen Ministerio selbst nicht ganz unerheblich geschienen haben; wenigstens ward durch ein Schreiben des Stadthalters vom 27sten Januar das gemeinsame Erachten der theologischen Fakultaͤt, des Superintendenten und der gesammten Prediger in Rostock daruͤber verlangt. Dieses erfolgte unterm 3ten Februar. Waͤre es nicht zu weitlaͤuftig, so moͤchte es vielleicht, wegen der darin angebrachten Gruͤnde, ganz gelesen zu werden verdienen; aber die Geduld des Lesers nicht zu ermuͤ-
den, will ich nur folgendes daraus bemerklich machen: Es sei nemlich keinesweges aus der heiligen Schrift zu ersehen, daß eine solche grausame That aus goͤttlichem Antriebe herruͤhren koͤnne, allenfalls muͤste durch einen besondern hoͤhern Befehl, Genehmigung oder Wunder dem allgemeinen goͤttlichem Gesetze: Du sollst nicht toͤdten, derogiret werden. Der Beweis hievon mangele nun in gegenwaͤrtigem Falle, es folge also, daß der Jmpulsus von einem andern Autore hergekommen, nemlich dem boͤsen Geiste, der ein Moͤrder vom Anfange, und welcher an Jnquisiten, so das Zeugniß eines frommen und christlichen Verhaltens haͤtte, dabei aber stets zur Melancholei — ein balneum diaboli — geneigt gewesen, mit goͤttlicher Zulassung ein bequemes Subjekt zur Ausfuͤhrung dieser That gefunden und ihn dazu getrieben haͤtte.
Der ungluͤckliche Varmeier starb ein paar Tage darauf an der grausamen Folter, womit ihn zuletzt das militaͤrische Gericht quaͤlte.
Evers, Karl FriedrichEvers, Geheimer Archivarius und Hofrath zu Schwerin.
II. Genesungsgeschichte eines Juͤnglings von einem dreimonathlichen Wahnwitz.
Anonym Ein Juͤngling von neunzehn Jahren, cholerisch-sanguinischen Temperaments, dessen Koͤrper von Jugend auf stark und meist gesund, dessen Gemuͤth heiter war, und dem es nicht an Geisteskraͤften fehlte, bei welchen er durch anhaltenden Fleiß dasjenige hinreichend ersetzet hatte, was die Natur ihm an Geschwindigkeit, sich Begriffe zu eigen zu machen, versagte; der sich durch anstaͤndige Sitten uͤberall beliebt gemacht, auch die Pflichten eines gehorsamen und wohlgearteten Sohnes gegen seinen Vater — seine Mutter hatte er schon im 7ten Jahr seines Alters verlohren — stets beobachtet hatte; wurde nach einem zu sehr angestrengten Schulfleiß hauptsaͤchlich einige Monathe durch, wegen zweier ihm bevorstehenden oͤffentlichen Pruͤfungen, auf einmal, nach uͤberstandener mit Ruhm vollendeter Uebung mit einer Schwere im Kopfe befallen, empfand Beaͤngstigungen in der Brust, Traͤgheit in allen Gliedern, bekam einen vollen, langsamen, harten Puls, die Ausleerungen des Koͤrpers wurden wenig und selten, der Appetit zum Essen geringer, der Nachtschlaf abwechselnd bald sehr unruhig und kurz, bald sehr tief und lang anhaltend.
Nachdem diese Zufaͤlle auf das hoͤchste gestiegen waren, so entstand eine solche Traͤgheit und Schwaͤche des ganzen Koͤrpers, daß eine starke Traurigkeit und Tiefsinnigkeit des Gemuͤthes sich einfand, wodurch alle innere Verrichtungen des Nachdenkens, Ueberlegens, Beurtheilens unordentlich wurden, auch faßte er sogar einigemal den Entschluß, durch Strick und Messer sich dieses traurigen Zustandes zu entledigen.
Die hiergegen angewandten Mittel des Arztes uͤbergehe ich, unter der bloßen Anzeige, daß ihm, da er zu keiner Aderlaß die ersten acht Wochen zu bringen war, als er es endlich geschehen ließ, nachhero wahrscheinlicherweise zu viel Blut abgezapfet worden ist.
Nach einem beinahe viermonathlichen Gebrauch erweichender und verduͤnnender Arzeneyen, verbunden mit einer Nelken- und Seydschuͤtzerwasserkur, ließen die koͤrperlichen Beschwerden nach, und die Seelenkraͤfte wurden wieder staͤrker: aber, so wie waͤhrend dieser Krankheit, Tiefsinn und Niedergeschlagenheit groß gewesen waren, entstand alsdann in einem kurzen Zeitpunkt eine solche Abwechselung hierin, daß eben eine so grosse Lebhaftigkeit des Geistes, Zufriedenheit, Freude und Vergnuͤgen uͤber das gewoͤhnliche ihm sonst eigenthuͤmliche Maaß an deren Stelle trat.
Man hielt diesen Zustand anfaͤnglich fuͤr natuͤrlich; und um gewahr zu werden, ob er von Dauer
seyn wuͤrde, wurden die zeither gebrauchten schwaͤchenden Mittel bei Seite gesetzt, so daß sein weiteres Befinden ganz der Natur uͤberlassen wurde, und man wollte erst nach einiger Zeit staͤrkende Arzeneyen brauchen lassen, wodurch eine bessere Mischung der fluͤßigen und mehrere Kraft der festen Theile des Koͤrpers zuwege gebracht werden sollten.
Jn dieser Zwischenzeit nahm er weiter die gewoͤhnliche Erlernung der Wissenschaften vor, jedoch anfaͤnglich mit Unterschied der Anstrengung, und mehr als blosser Zuhoͤrer; kurz darauf aber mit so erneuertem und munterem Fleiß, daß er uͤber seine eigene Arbeiten noch anderer ihre aus Freundschaft vertrat, mit einer Leichtigkeit, die ihm sonst nicht von Natur eigen war.
Hiebei fand er vielen Geschmack an Zerstreuung und gesellschaftlichem Vergnuͤgen, so daß er an Geist und Koͤrper zusehends genaß.
Dieser Zustand dauerte an vier bis fuͤnf Wochen, wobei insbesondere seine Seelenkraͤfte uͤber den gewoͤhnlichsten Grad stark ausgedehnt und thaͤtig blieben. Ploͤtzlich fanden sich kleine, wiewohl nicht auffallend zu bemerkende Verirrungen des Geistes ein; aber nicht lange hierauf wurden dieselben so heftig, daß Zorn, ja sogar Wuth und die groͤßten verwirrten Uebereilungen erfolgten; doch in Tagesraum ließ dieser unnatuͤrliche Zustand wieder bis zum Schein der zuruͤckgekehrten Vernunft nach, zwar abwechselnd mit Zwischenzeiten, bis
nach zwei Tagen in der Nacht ein wuͤthender Paroxismus bei ihm entstand, wobei er, als derselbe nachließ, sehnlich zu seinem Vater und der Stiefmutter, die zwei Tagereisen weit entfernt waren, verlangte, einige Gemuͤthsfreunde von Lehrern und sonstigem Umgang zu sprechen wuͤnschte, und als man ihm dieß gewaͤhrte, wieder ganz beruhiget wurde. Und da das Verlangen nach Hause zu reisen blieb, so wagte man es, unter Begleitung eines sichern Mannes, ihn den Morgen darauf dahin abzuschicken, wo er ganz unvermuthet den andern Abend gluͤcklich eintraf.
Unterwegens hatte er in uͤberspannten Ausdruͤcken mit der angetroffenen Post an einige zuruͤckgelassene Verwandte und Freunde dankbar geschrieben, auch an dem einen Ort des Mittags, unter einem angenommenen fremden Namen und Charakter, sich bei einem Einwohner zu Gaste gebeten, war sehr gespraͤchig allda, so wie auch sonst unterwegens, gewesen, und langte dann so wohlbehalten in seine Heimath an. Wie schon erwaͤhnt, seinen Eltern war von diesem Besuch nichts bewußt, — sie glaubten ihn den vorher verschiedentlich erhaltenen Nachrichten nach wieder hergestellet — und als er Abends um sieben Uhr im September-Monath in ihr Zimmer trat, mit einem hastigen und lauten Tone »guten Abend, lieber Vater! sagte, ich komme Sie zu besuchen;« versetzte der uͤber diese unvermuthete Ankunft betroffene Vater:
»Gott! wo kommst Du her, lieber Sohn?« antwortete er hastig und mit verdruͤßlichem Laut: »Sehen Sie mich etwa nicht gern, so reise ich gleich wieder fort;« welches Bezeigen seinem sonstigen ganz entgegen stand.
Nach kurzer Selbstsammlung und nachdem ich die Unrichtigkeit in seinem Gemuͤthe bemerkte, versetzte ich den erhaltenen Schrecken verbergend: »nein, liebster Sohn! Du bist mir herzlich angenehm, nur bist Du mir unvermuthet gekommen, und aus dieser geaͤußerten Befremdung schließest Du unrichtig das Gegentheil vom Willkommenseyn.«
»Ja, war die Erwiederung, das muß ich gestehen, ich bin jetzt ausserordentlich empfindlich, und wer nur im geringsten meine Ehre antasten will, gegen den bin ich augenblicklich aufgebracht.« Hieruͤber abbrechend erkundigte ich mich nach seinem und der verlassenen Verwandten Befinden, worauf er kurz antwortete, mittlerweile seine Stiefmutter wieder ins Zimmer kam, die ihn mit einer ihr gewoͤhnlichen sanften und heiteren Miene empfing, zu der er sagte, wo sind Sie gewesen, o nur nicht zu viele Umstaͤnde meinetwegen gemacht, das bringt mich gleich in Verlegenheit — und sein Ton klang abermals verdruͤßlich.
Ehe ich weiter fortfahre, werde ich so eben gewahr, der Geschichtserzaͤhler sey verrathen, was ich beym Anfang des Aufsatzes just nicht wollte;
indessen sei es, dieser einmal angesponnene Faden mag so fortgezogen werden, und gewiß wird er ohne fremden Zusatz abgesponnen werden.
Man hatte an dem Ort, wo er herkam, die Unvorsichtigkeit begangen — vermuthlich aus verlegener Beaͤngstigung — meinen Sohn so ploͤtzlich abzuschicken, ohne mich von seinem wahren Zustande vorhero benachrichtiget zu haben, und ein kurzer mitgegebener Brief zeigte bloß an, nach seinem Verlangen und zu seiner voͤlligen Erholung kaͤme er zu uns, so wie sein Begleiter, mit dem ich alleine sprach, nur angab, widersprechen ließe er sich nicht gern.
Erst zwei Tage darauf langte mit der Post die wahre Nachricht von seinem Zustand, des Arztes Krankheitsgeschichte an. Jndem ich kaum mit dem Begleiter zu sprechen angefangen hatte, kam er sogleich nach und frug mich franzoͤsisch: »warum ich mit selbigem besonders spraͤche? das waͤre uͤberfluͤßig und ihm unangenehm, er koͤnne und wuͤrde mir alles selbst sagen und beantworten.« Bei Ueberreichung des Schreibens wollte er ihn auch lesen, welches ich zuließ, und da er an die Worte kam: »daß seinem Verlangen gemaͤß er zur Zerstreuung und voͤlligen Erholung sich einige Wochen bei uns aufhalten wuͤrde, so sagte er: ja, lieber Vater, so ist es.« Wir setzten uns hierauf zum Abendbrod, wobei er sehr gespraͤchig wurde, sogleich die ihm noch vorgeschriebene Diaͤt von selbst angab,
und von den Zuruͤckgelassenen mancherlei erzaͤhlte, zwar ordentlich, doch mit geschwinderem und lauterem Ton, als sein natuͤrlicher war.
Zuletzt kam er auf das Thema seiner, wegen der bevorstehenden Beziehung der Akademie, in Versen auszuarbeitenden Schulabschiedsrede, und zeigte mir in seinem Portefeuille einen kurzen bereits gemachten Anfang, der noch keiner Beurtheilung faͤhig war: hiebei aber las er ein bei Freunden auf dem Lande kuͤrzlich verfertiges Gedicht vor, weshalb er vermeinte, Beifall bei der Frau vom Haus erhalten zu haben, ich aber fand deutliche Spuren des geschwaͤchten Kopfs darinnen.
Ueberhaupt leuchtete viele Selbstzufriedenheit und Bewustseyn seines Jchs bei der Unterredung herfuͤr, und da ich aͤusserlich dem Gedichtchen beipflichtete, so heiterte sich seine vorher etwas starre Miene voͤllig auf, und er ward vergnuͤgt.
Gegen die Mutter hatte er waͤhrend meiner Abwesenheit Haͤndel erzaͤhlet, die er in der verlassenen Schule mit Lehrern, so wie mit dem Arzt kurz vor seiner Abreise gehabt habe, doch sie gebeten, mir davon nichts zu erwaͤhnen: die gleiche Erzaͤhlung machte er den andern Nachmittag einem Vetter, doch mit demselbigen Ersuchen von Verschwiegenheit gegen mich.
Jn einem Zimmer legten wir uns zusammen nieder, kaum war eine Stunde vorbei, so setzte er sich hin, um zu schreiben. Jch frug ihn, was er
denn jetzt machen wolle? — »er koͤnne nicht schlafen und wolle zu der Abschiedsrede Verse machen,« war die Erwiederung. Beiliegende Reime hat er zwei Naͤchte hintereinander, ohne weitere Feilung in einer Zeit von etwa sechs bis sieben Stunden aufgesetzet; das aufgegebene Thema war: die Tugend ist der wahre und sichere Weg zur Gluͤckseeligkeit.
Zuweilen stand er vom Arbeiten auf, sah ob wir schliefen, legte sich ins Fenster, sang ein Liedchen, wobei sich aͤußerte, daß er gegen ein wohlgezogenes schoͤnes Maͤdchen in seinem bisherigen Aufenthaltsort lebhafte Zuneigung hatte, auch wurde aufsteigender Liebestrieb, mehr als bloß platonisch, an ihm wahrgenommen.
Erst bei Tagesanbruch legte er sich wieder nieder und schlief ein paar Stunden. Fruͤh um sieben Uhr kehrte sein Begleiter zuruͤck, mit dem er die unterwegens gemachten Auslagen berechnete und unter meinem mitgebenden Brief vollstaͤndig ordentlich einige Zeilen hinzufuͤgte.
Beim Anzug hatte er gegen die Mutter wieder verschiedenes von den vorhin erwaͤhnten vorgefallenen Schulhaͤndeln mit Heftigkeit erzaͤhlt. Mit mir war er zuruͤckhaltend im Sprechen. Nach dem Mittagsessen legte er sich aufs Bett; anstatt aber zu schlafen, wollte er gegen das Dienstmaͤdchen Juͤnglingstriebe ausuͤben und sprach Zoten; — gaͤnzlich gegen seine sonstige Art sich zu betragen.
Nachmittags ging ich mit ihm spatzieren, er bezeigte Vergnuͤgen uͤber sein Hierseyn, und kaum athmeten wir freie Luft, so fing er an mir zu erzaͤhlen, wie er durch Lesung der Voltairischen und Lessingischen Schriften auch verschiedentlicher lateinischer Disputationes kein aͤchter Christ geworden sei, von der Religion eine geraume Zeit nichts gehalten habe, keinen zukuͤnftigen Zustand mehr geglaubt, und in seinem erlittenen Tiefsinn habe er zweimal selbst Hand an sich legen wollen, einmal mit einem Strick, den er sich des Nachts schon im Bette umgebunden gehabt, sich zu erdrosseln, ein andermal waͤre er im Begriff gewesen, sich in den Fluß zu stuͤrzen, wozu aber just ein bekannter Offizier gekommen, der ihn gefragt, was er da machen wolle, und diese Begegnung habe ihn wieder ermannet. Kurz vor seiner Abreise haͤtte er einem seiner Schullehrer, der ein Herzensfreund sei, wegen der gehegten Religionszweifel Eroͤfnung gethan, der ihn wieder auf einen richtigeren Weg geleitet habe, so daß er hoffe, er werde durch mehrere Unterhaltung mit selbigem wieder seinen ehemaligen festgegruͤndeten Glauben ganz zweifelsloß erhalten, auch koͤnne er wieder mit Andacht beten, so wie er mit Ueberzeugung das letzteremal wieder der Communion beigewohnet, welches einige Zeit vorher nur der eingefuͤhrten Regel wegen von ihm geschehen sey.
Von seinem vielen Nachtaufsitzen und heimlichen Lesen, wie nicht weniger von vielfachen Arbeiten erwaͤhnte er gleichfalls, und bezeigte voͤllige Selbstzufriedenheit mit den Graden seines erlernten Wissens.
Waͤhrend diesen Erzaͤhlungen hatte ich nur meist in Sylben geantwortet; und da er eine Pause damit machte, so gab ich ihm mein Befremden zu erkennen, in Ruͤcksicht der abgeaͤnderten Religionsgesinnungen, die er sonst hier richtig gefaßt hatte, ob schon nicht nach dem gewoͤhnlichen Schlendrian, auch wundere es mich, da wir ehedem mehrmalen daruͤber zu meiner Zufriedenheit gesprochen hatten, wie er so geschwind sich vom Gegentheil habe blenden lassen koͤnnen. Ja, versetzte er, alles war damals bloße Verstellung bei mir, so wie ich ebenfalls die paar Jahre in meinem Schulauffenthalt alle darmit geaͤffet habe.
Da Heuchelei nie in seinem Grundcharakter gekeimet hatte, und auch mein Erziehungsplan ihm just das Gegentheil eingepraͤget hatte; so stutzte ich zwar uͤber seine Versicherung, zweifelte indessen doch an ihrer Richtigkeit, so wie an der, daß eine anhaltende Lesung von Voltairischen Schriften ihm Unglauben eingeprediget habe, ob schon er mir von beidem wiederhohlt die sichere Wahrheit behauptete.
Wir kehrten zur Stadt zuruͤck, mit der Abrede hieruͤber ferner uns zu unterhalten. Der Abend ging mit Kartenspiel und leichtem Essen gut vor-
uͤber, nur bei ersterem hatte der Widersprechungsgeist viel zu schaffen, und Leichtsinnigkeit im Spielen begleitete denselben. Die Nacht wurde so wie die vorhergehende, meist mit Dichten, zugebracht, und eben wieder so wenig Schlaf.
Der Morgen brachte mir die so sehnlich erwarteten Nachrichten wegen seines Verhaltens am verlassenen Orte mit, und ich eilte zu meinem Aesculap, sie ihm mitzutheilen. Nach bedaͤchtiger Durchlesung derselben und Anhoͤrung meiner Bemerkungen versicherte mich dieser einsichtsvolle und edelmuͤthige Arzt, er wuͤrde uͤber seinen Zustand nachdenken und ihn besuchen, pflichtete auch in so weit uͤberhaupt seinem Vorgaͤnger in der Kurart bei, das haͤufige Aderlassen ausgenommen. Mittag und Nachmittag verstrichen wie am gestrigen Tag, gegen Abend gingen wir wieder spatzieren, und hierbei nahm augenscheinlich die innere Hitze bei ihm zu; so laut als waͤren wir auf dem Gang alleine, fing er an Fragen in Beziehung auf vorjaͤhrige Vorfallenheiten aufzuwerfen, die Anzuͤglichkeit mit sich fuͤhrten; warf Tadel um sich gegen uns, wurde trotzend und endigte zuletzt voͤllig im Ton des HeautontimorumenosHeavtontimorumenos.
Beim Eingang am Haus bestand er mit Widersetzlichkeit darauf, noch einen alten hiesigen Schulfreund zu besuchen, und ob der Abend gleich schon daͤmmerte, so fand ich doch rathsam, ihm den Besuch auf eine halbe Stunde zuzulassen, damit er nicht
ganz laut aufgebracht ins muͤtterliche Zimmer eintreten moͤchte. Zur bestimmten Zeit kam er zuruͤck, legte sich wenig redend aufs Sopha, und sah blaß aus, so viel Roͤthe auch sonst seine Wangen durchschien.
Jch ermunterte ihn zum Spiel, allein es lief unruhiger und schlechter wie den vorigen Abend ab, beim Essen war er muͤrrisch und legte sich auch so nieder. Um zwoͤlf Uhr saß er wieder am Schreibtisch, arbeitete die halbe Nacht, verbarg aber am Morgen seine Arbeit vor mir, da er die Verse von den zwei vorhergehenden Naͤchten von selbst weggelegt hatte. Jch erfuhr zeitig fruͤh, nach seiner Erhohlung im Schlafzimmer von den Leuten, wie er bei dem gestrigen Abendbesuch Verdruß und Haͤndel gehabt haͤtte; und daß er versiegelte Schriften an seinen Vetter, einen Juristen, geschickt; doch alles dieses verheimlichte er vor mir. Diese enthielten anzusagende Klagen vor Gericht gegen die Abendgesellschaften, und einer davon enthielt sogar den Handschuh. Eigentlich aber war er der beleidigende Theil gewesen, und da er es zu arg gemacht hatte, wieß man ihm, indem man ihn fuͤr betrunken hielt, die Thuͤre.
Hierauf zog er sich aufs beste an, und wollte ohne Wiederrede in einem Hause, worin er von jeher gut aufgenommen war, Besuch abstatten, wobei ich Muͤhe hatte, ihn so lange zuruͤckzuhal-
ten, bis der Arzt da gewesen sey, der den Morgen kam.
Um zehn Uhr erschien selbiger, verordnete Arzney und rieth ihm an, zu Hause zu bleiben, wozu er sich nicht verstehen wollte, indem er meynte, der Gebrauch des verschriebenen Mittels koͤnne auch ausser dem Hause statt finden. Jch versetzte, er muͤsse dem Herrn Doktor folgen, und nahm ihn bei der Hand mit anhaltender Vorstellung; hierauf gerieth er in solche Hitze, daß er mir auf die Hand schlug, spukte, und ihn vor Zorn der Schaum vor dem Mund stand, mit der bestaͤndigen Weigerung nicht zu Hause zu bleiben, zuletzt sprang er auf, ergrif den Fensterfluͤgel und wollte hinausspringen, ja in der Hitze faßte er ein auf dem Tisch liegendes Messer und drohete sich damit zu wehren, schmiß auch Tisch und Stuͤhle um.
Der Arzt besaͤnftigte ihn einigermaßen, und es wurde zu dem neben uns wohnenden Geistlichen geschickt, fuͤr den er von jeher Achtung und Liebe geheget hatte. Wie der kam, und ihn umarmte, so empfing er ihn geruͤhrt, und weinte heftig, versprach zu folgen und wollte mit ihm allein sprechen.
Nachdem der Arzt weggegangen war, so gingen wir aus dem Zimmer, und er erzaͤhlte dem Geistlichen die erwaͤhnte Geschichte seines Unglaubens, schob mit die Schuld auf mich, wie ich ihn von fruͤher Jugend an, weder zu Religionsbegriffen, noch Bibellesen und Beten angehalten haͤtte —
alles grundfalsch — sprach uͤberdem gegen uns Beyde nichts als Vorwuͤrfe; doch wurde er besaͤnftigt, und versprach ihm zu folgen, auch auf seinen Rath nicht auszugehen. Wie wir wiederum hereinkamen, bezeigte er sich ganz gelassen gegen uns, und sowohl der Geistliche als der Arzt hatten versprochen Nachmittags wieder zu ihm zu kommen, woruͤber er Zufriedenheit aͤusserte.
Auf Anrathen des letztern ward ein Aufpasser unten ins Haus bestellt, damit er nicht unversehens hinauskommen moͤchte, weil er immer wuͤnschte, den vorgehabten Besuch noch abzustatten, und bis zur Wiederkunft des Arztes keine Gewalt dagegen gebrauchet werden sollte, sondern er nur mit Zureden, da Guͤte Eindruck machte, davon abgehalten wurde.
Die Arzenei nahm er ohne Wiederrede, und hieruͤber ward es Mittag. Kurz vor Tisch ging er in ein anders Zimmer, wo aufgeschnittener Braten stand, hiervon verschluckte er gierig einige geschnittene Stuͤcke, und setzte sich mit uns beim Zuruͤckkehren zur Suppe, ohne es sich merken zu lassen, daß er das Fleisch, was untersaget war, gegessen hatte.
Voll Unzufriedenheit und muͤrrischem Wesen sprach er beym Essen von der mehreren Freiheit, die ihm nun bei seinem Alter gegeben werden muͤßte, hinzugehen, wo es ihm gut duͤnkte, ohne es vorhero anzuzeigen, auch wolle er zur Zerstreuung aufs Land reisen, doch nicht etwa zu den Großel-
tern, wo er sonst sehr gerne war — sondern wo es besser und vergnuͤgter zuginge, tadelte unsre einfoͤrmige und eingezogene Lebensart, und wuͤnschte sich wieder in seinen verlassenen Auffenthalt.
Man gab nach, wie solches geschehen koͤnne, und nach vollendeter Mahlzeit wollte er sich aufs Bett legen, wo er wieder gegen die Leute sich entschooßte, und Liebestrieb ausuͤben wollte. Darauf ging er zum Wirth im Haus, sprach vielerlei mit Munterkeit und Zusammenhang; von da besuchte er einen daselbst befindlichen Handlungsdiener, vertauschte seine bessere Uhr gegen eine schlechtere von ihm, erwaͤhnte gegen die Mutter des Tausches, doch gegen mich verschwieg er ihn, und so ging er wieder herunter zum plaudern. Unter dieser Zeit war der Doktor mit dem Geistlichen gekommen, und funden zur eigenen und allgemeinen Sicherheit unumgaͤnglich noͤthig, daß er befestiget werden muͤsse, und so dann auf den Waden spanische Fliegen gesetzt, wobei auch die Haͤnde anfaͤnglich gebunden werden sollten, um solche nicht etwa loßzureissen.
Nachdem ein lederner Gurt mit einem Schloß um den Leib zu legen und ein Strick zur Befestigung an die Bettpfosten herbeigeschaft worden, so ließ ich ihn heraufrufen, Arznei zu nehmen, und der Arzt, der Geistliche und ein Verwandter empfingen ihn im Schlafzimmer.
Wir Eltern waren zu beklemmt, um gegenwaͤrtig seyn zu koͤnnen, stellten ihm vor, daß zu
seinem Besten und zur Tilgung der Hitze im Kopf, die er selbst spuͤrte, spanische Fliegen gesetzt werden sollten, und damit er sich nicht bei der spuͤrenden Unruhe schaden koͤnne, wuͤrde er auf kurze Zeit im Bett befestiget werden.
Anstatt, daß man besorget hatte, er wuͤrde heftig gegen diesen Vorschlag toben, war er bald willig, zog sich selbst aus, und ließ ruhig alles noͤthige machen, worauf ich zu ihm kam, und bei der Versicherung, welche ich auf seine Frage gab, daß diese seine Lage nicht lange dauern wuͤrde, befriedigte er sich ganz, und ward auch gleich gegen den wachthabenden Soldaten gespraͤchig und freundlich.
Wie nach Verlauf einiger Stunden die Wuͤrkung der spanischen Fliegen anfing, sagte er es mir, und da ich ihm hierzu Gluͤck wuͤnschte, da dieser anfangende Schmerz ein gutes Merkmal sei, wurde er vergnuͤgt und brauchte dabei die Arzney gelassen und willig. Nachts um zwoͤlf Uhr zogen die Pflaster stark, er wurde unruhig, ließ mich rufen und tobte sehr. Jch redete ihm zu, und besaͤnftigt ihn wiederum; allein gegen Morgen bei dem immer zunehmenden Schmerz brach er in laute Klagen und Schimpfen aus, wollte sich losmachen, und als er Widerstand fand, wuͤthete er gegen den Waͤchter, stieß mit dem Kopf an die Wand, und da sein Bette frei gestellet wurde, erboßte er sich so, daß er um sich biß und spukte, so daß noch ein Waͤchter herzu geholt werden mußte.
Gegen mich war er aufs heftigste aufgebracht, daß man so mit ihm umginge, ein gleiches gegen meine Frau, und uͤberhaupt konnte man dem Eintritt einer voͤlligen Raserei entgegen sehen.
Jndessen nahm er die Arznei willig, nur mußten ihm Haͤnde und Fuͤsse gebunden werden, weil er sich der Pflaster mit Gewalt entledigen wollte.
Wie der Arzt kam, schimpfte er auf ihn, und verlangte einen andern. Nachmittags langte vom Lande sein Stiefgroßvater an, den er stets sehr lieb hatte, der Empfang war ziemlich freundlich, beym oͤfteren Sehen aber wurde Er ebenfalls mit Anspucken und Schimpfreden behandelt, so wie die Waͤrter.
Beide Maͤnner, als Kenner der Symptomen dieser Krankheit, der Arzt und der Geistliche fanden noͤthig, Schaͤrfe anzuwenden, und es musten Ruthen gemacht werden. Als den dritten Tag fruͤh der Arzt sich ihm naͤherte, spuckte er ihn an, da er aber von selbigem einige Schmitze auf das Gesaͤß erhielt, ward er gleich stiller. Der Balbier hatte beim Auf- und Zubinden der Pflaster viel zu schaffen, und mußte er, ohnerachtet daß er im Bett angebunden war, doch noch von beyden Waͤchtern dazu gehalten werden.
Den Tag uͤber stieß er oͤfters Schaudern erregende Reden aus gegen Gott und Menschen, und uns Eltern vermaledeyte er bis in Abgrund, den Stiefgroßvater konnte er auch nicht leiden, spuckte
jedermann an, versuchte, sich in die Armen zu beissen, auch in die Zunge, jedoch da er Schmerz fuͤhlte, und meinen Ernst sahe, wie man ihn allein lassen wuͤrde, ließ er hiermit nach. Unterweilen sprach er auch viel von einem zuruͤckgelassenen Maͤdchen froͤlich, die seine ganze Liebe habe, und wollte zu ihr.
Die Waͤrter musten sich der Ruthe zuweilen bedienen, um ihn ruhiger und folgsamer zu machen; indessen nahm das wuͤthende Schreyen und Toben immer zu. Am Abend verlangte er ununterbrochen, wieder an den verlassenen Auffenthaltsort gebracht zu werden, wenn es auch in Ketten und Banden waͤre; Schimpfen und Drohen ließ die ganze Nacht nicht nach, und die Raserei war aͤusserst heftig. Der hierauf folgende Tag war wie der vergangene, doch nahm er gehoͤrig die Arzenei. Den kommenden Morgen ließ das Anspucken nach, und die Waͤchter vermochten mittelst der Drohung mit der Ruthe ihn zu bezwingen, auch bezeigte er sich gegen selbige folgsamer und gefaͤlliger, nur gegen uns stieß er schaͤndliche Reden aus, erzaͤhlte auch den Waͤchtern waͤhrender Abwesenheit haͤßliche Dinge von uns, mit dem Anstrich der Wahrheit. Die Jdee der Liebe gegen das erwaͤhnte Maͤdchen, zeigte sich ebenfalls aͤusserst lebhaft, wobei es nicht an hoͤchst schluͤpfrigen Ausdruͤcken fehlte. Eine neue Phantasie kam ihm nun in den Kopf, Husar zu werden, wozu er schon das Koͤnigliche Patent als
Cornet vom Koͤnig nebst dem Saͤbel und Tasche erhalten zu haben glaubte, die wir Eltern ihm nur immer vorenthielten und weshalb er wiederholt den Waͤchtern anbefahl, alles bei uns abzufordern.
Hierzu mochte etwa ein Freund, der ihn besuchte, einige Veranlassung gegeben haben, welcher, durch seinen freundlichen Empfang getaͤuscht, ihn zur Zerstreuung von diesem und jenem, also auch unter andern vom Soldatenstande unterhalten hatte, das er sogleich mit freudiger Regung ergriff, da er so nun nicht mehr studiren koͤnne, hoͤchstens etwa eine der niedrigsten Stufen bei einem Collegio zu erhalten vermoͤchte, und also Soldat zu werden das beste sey; und von der Zeit an blieb diese Jdee die herrschende waͤhrend der Krankheit; seine Schlafmuͤtze war die Husarenmuͤtze, die Waͤrter mußten ihm Knoten in die Haare knuͤpfen, und wir sollten Pelz, Saͤbel und Patent uͤberliefern, sonst wuͤrde es der Regimentsadjutant abfordern, dem er anbefohlen, es zu holen.
Vielleicht trug der Stand der beiden Waͤchter, die Soldaten waren, zu dieser Phantasie auch etwas bei. Dieselbe Lage und Aeußerungen verblieben am naͤchstfolgenden Tage; zeither hatte sich kein Schlaf eingefunden, Tag und Nacht sprach er ohne Unterlaß mit schreyendem Ton von Liebe, dem Soldatenstand, exercirte und kommandirte sehr laut, wobei Schimpfen und Verachtung, ja Haß gegen uns fortdauerte: dieß war indessen die erste Nacht,
wo er etwas schlief; doch war sein Schlaf von keiner Dauer und auch von keinem besseren Erfolg; denn beim Erwachen rasete er wie vorher fort, mitunter aͤußerte er onanitische Wollusttriebe, und die Unterlassung mußte mit Schaͤrfe bewirket werden, sang lustige Arien und war Husar und unser Verlaͤumder, vertraute den Waͤchtern Wahrheiten und Unwahrheiten an, und blieb gegen selbige meist gut gesinnt, wenn sie auch zur thaͤtigen Bestrafung geschritten waren.
Am zehnten Tage riethen Arzt und Prediger an, wir Eltern sollten uns nicht vor ihm mehr sehen lassen, wenn er auch noch so heftig nach uns verlangte: dieß geschah, und er schickte mehrmalen nach uns, schrie heftig, daß wir kommen sollten, und lermte den Tag uͤber wie sonst bis in die Nacht ohne Unterlaß, und schlief darauf einige Stunden.
Am eilften Tage nahm er ein abfuͤhrendes Pulver fruͤh, welches Abends wirkte, die spanischen Fliegen wurden geschaͤrft, und die rasende Wuth fing an, sich zu mindern. Diesen Nachmittag ward er weichmuͤthig, wuͤnschte uns zu sehen, sprach von Sterben, als etwas, das gewiß erfolgen wuͤrde, sehnte sich nach mir vorzuͤglich, doch immer im alten verworrenen Zustand, und abwechselnd mit Weinen und Lachen, und Untermischung eines froͤlichen Liedes oder Gesanges.
Der darauf folgende Tag war ziemlich ruhig, auch die Nacht: Nur Liebe, Wollusthang und der
Soldatenstand blieben seine Hauptideen und Empfindungen.
Am dreizehnten Tage wurde er wieder unruhiger und lermender, allein die Nacht schlief er etwas. Der vierzehnte war aͤußerst schlimm, vom Morgen an bis auf den Abend um neun Uhr rasete und plauderte er, ohne nur minutenlang zu schweigen; dann betete er auf seine sonst gewoͤhnliche Weise, und schlief von zehn bis gegen vier Uhr.
Das den fuͤnfzehnten Tag eingenommene Abfuͤhrungsmittel wirkte dießmal gut, und sein zwar bestaͤndiges Plaudern ward gelassener, und der Husar kommandirte nur gemach und hieb gegen die Tuͤrken nur schwach ein. Diese Ruhe dauerte aber nur bis gegen Abend, anstatt zu mediciniren wollte er Obst und uͤberhaupt Essen: da er solches nicht bekam, schimpfte er auf uns wieder los, mischte lustiges Zeug mitunter, und foderte endlich die Arzeney, nahm aber das hernach angebotene Essen nicht an. Bis Nachts gegen zwoͤlf Uhr war er gegen die Waͤchter aͤußerst muthwillig, doch ein paar Ruthenschmitze verschaften Stille und Schlaf bis Morgens um sechs Uhr.
Am sechzehnten Tage hielt ein ruhiges Betragen bis um vier Uhr Nachmittags an, dann schlief er zum erstenmal im Tag drei Stunden sanft, blieb bis vier Uhr Morgens auf gleiche ruhigere Weise wach, und wachte so fruͤh gegen sechs auf, nahm seinen Thee und Arzenei gut zu sich, fiel Nach-
mittags in einigen Schlaf, erwachte aber mit Heftigkeit um vier Uhr, stieß die Medicin drei Stunden lang von sich, wuͤthete laut, und ihm mußte mit Huͤlfe der Ruthe die Arzenei beigebracht werden. Um sieben aß er Suppe, mußte nachher wieder durch Schaͤrfe zum Einnehmen bewogen werden, worauf er von zwoͤlf bis fuͤnf Uhr schlafend zubrachte.
Den 18ten bis den 23sten Tag blieb abwechselnd die alte Lage, das Abfuͤhrungsmittel wirkte nicht nach Wunsch, und die gewoͤhnliche aufloͤsende Medicin mußte noch nicht genugsam eingegriffen haben: er fing an, dieselbe auch voͤllig uͤberdruͤßig zu werden, und der Arzt aͤnderte beides ab; er bekam nun Tropfen und Pillen, und nun ging es mit dem Einnehmen und der Oefnung besser; der verworrene Zustand indessen und das unablaͤßige Plaudern Tag und Nacht dauerte fort; allein mehr lustig und froͤlich wie muͤrrisch. Mit den Waͤchtern ging er als Soldaten freundlich um, hingegen gegen die Dienstbothen war er das Gegentheil. Der Schlaf bei Nacht fand sich zu vier bis sechs Stunden ununterbrochen ein, und er erwachte auch meist heiter, bis wenn die Fliegenpflaster geschaͤrft waren und die Bevestigung am Bett mittelst des Gurtes um den Leib ihn boͤse machte.
Am 24sten Tage kam unvermuthet vom Lande der Großvater zu ihm; er war den Morgen uͤber wild gewesen, doch hatte er seine gewoͤhnliche Kost, Suppe, gekocht Obst und ein Butterschnittchen mit
Appetit gegessen, an dem es ihm uͤberhaupt nicht fehlte. Um zwei Uhr empfing er den Besuch sehr vergnuͤgt, sprach mitunter ordentlich und verlangte kurz darauf wieder Essen: weil ihm wegen des Medicin-Gebrauchs solches nicht gegeben werden durfte, fing er sogleich wieder an, zu schimpfen und zu lermen, welches sich in heftiges Weinen fuͤnf viertel Stunden lang abaͤnderte, wobei er uͤber heftiges Kopfweh klagte, wieder vom Sterben sprach und viel Wasser mit Himbeeressig vermischt trank. Hierauf ward er ruhiger und brauchte auch willig Arzenei. Als er um sieben Suppe gegessen hatte, wollte er die Butterschnitte nicht nehmen, weil sie zu klein, und selbige von schwarzem Brod oder Semmel seyn sollte; tobend schrie er darnach, und die Ruthe mußte wieder herbeigeholt werden, worauf dieser vorher weinerliche und hernach lermende Paroxismus sich in volle Lustbarkeit verwandelte, und er stark und viel lachte.
Der Großvater ging hierauf wieder zu ihm, den er gut empfing, aber viel untereinander schwaͤrmete, und erst am Morgen um vier Uhr einschlief. Zwei Tage drauf gingen ziemlich ruhig voruͤber, so auch die Naͤchte, und es fanden sich anhaltendere, zusammenhaͤngendere Gedanken ein. Hierbei faͤllt mir die Bemerkung ein, von dem außerordentlich feinen Gehoͤr, so wie der lebhaften Einbildungs- und Erinnerungskraft, die er auch bei dem heftigsten Paroxismus zeigte. Sehr oft ging ich ohne
Pantoffeln an seine Stubenthuͤr zu horchen, sofort ward er vermuthlich durch die leise Eroͤfnung der Thuͤre mich gewahr, redete dann oft gegen mich unanstaͤndig, und das einemal rief er laut aus: »Horcher an der Wand, hoͤren ihre eigene Schand.« Meinen Gang auf dem Saal hoͤrte er sogleich, und rief mich dann oft zu sich, welches aber, wie erwaͤhnt, untersagt war. Eben so genau behielt er fruͤh die Nahmen der beiden Soldatenwaͤrter, welche taͤglich abwechselten, und wenn sie wiederkamen, rufte er sie sofort wieder bei ihren Namen, bemerkte auch augenblicklich ihre Leibes- und auch wohl Geistesmaͤngel, satyrisirte daruͤber und haͤnselte sie ihrer Schwaͤchen wegen. Einer von ihnen hatte was gelernt, und redete ihm mehrmalen zu, unterhielt ihn auch von Schulkenntnissen; den konnte er niemals leiden, vermuthlich wegen seiner Vorzuͤge.
Der 27ste Tag war wieder muͤrrischer und das bestaͤndige Sprechen nicht so laut, indessen begleiteten ihn sechs Oefnungen, und er schlief darauf acht Stunden, worauf ein ruhiger Tag erfolgte, auch Nachmittagsschlaf, nur wurde nachher sehr viel geplaudert und oft dabei gespucket. Nun oͤfnete sich der Leib immer fuͤnf bis sechsmal. Nach vierstuͤndigem Schlaf erwachte er den 29sten Tag lustig und singend; da aber der Arzt zu ihm kam, ging Schimpfen und Toben wieder an, und der Soldatenstand war wieder die Lieblingsmaterie. Zunge und Verwirrung blieben außerordentlich ge-
laͤufig, erst fruͤh gegen fuͤnf Uhr schlief er zwei Stunden, hatte die Nacht haͤufig sein klares Wasser getrunken, und der 30ste Tag verging stiller und besser. Eine sehr ruhige Nacht mit neunstuͤndigem Schlaf verschafte ihm den folgenden Tag Ruhe, und er blieb lustig und guter Dinge, und lachte viel. Hingegen schlief er diese Nacht gar nicht, blieb aber am 32sten Morgen gelassen, doch Nachmittags kam wieder ein halbstuͤndiges Lermen beim Einnehmen, hernach ward das verlassene liebe Maͤdchen der Hauptgegenstand des Sprechens.
Nach sieben Stunden Schlaf wachte er auf, und man fand, daß er den Haken am Gurt losgerissen hatte, so daß das Schloß nicht mehr bevestiget war, welches er sich ruhig wieder verbessern ließ, auch sich furchtsam bezeigte, daß solches vorgefallen sey. Jnzwischen begegnete er dem Arzt trotzig, und das Schimpfen ging wieder an, welches abwechselnd dauerte, bis auf den Abend, wo die Ruthe und das Haͤndezusammenbinden Stille verschaffen mußte. Von ein Uhr bis gegen sechs hatte er geschlafen, doch vorher eine ganz neue baumwollene Muͤtze in zwei Stuͤcke zerrissen, und die Waͤchter ziemlich vexiert mit Heraus- und Hereinheben ins Bett.
Den 34sten Tag fing er wuͤthend an; dieß dauerte bis auf den Abend so, und Schaͤrfe mußte angewendet werden. Einer guten Nacht folgte ein ruhiges Erwachen, und man vermochte, ihm ruhig
am Fuß eine Ader oͤfnen zu lassen, welches guten Erfolg hatte, so daß der 36ste Tag stille anfing, aber bei der Mittagssuppe war das Butterbrod zu klein, es wurde weggeworfen, da aber kein groͤssers erfolgte, aß er es gelassen. Den Abend besuchte ihn sein Freund der Geistliche, und die Unterredung war hoͤflich, jedoch verwirrt. Der heftige Paroxismus hatte den naͤchsten Tag sich fast gar nicht gezeiget, und der Abgang blieb zeither so reichlich, als wenn er taͤglich sechs volle Schuͤsseln zu speisen kriegte.
Am 38sten Tage wollte er mit dem Arzte gar nicht sprechen, und versteckte sich unters Bett; indessen verfloß er ziemlich ruhig. Vor dem Einschlafen ward er bis ein Uhr wieder sehr laut, begehrte eine Aderlaß, doch schlief er hierauf fuͤnf Stunden. Vorher aber hatte er das Schloͤßchen am Gurt wieder losgesprengt, und selbigen diesen Morgen voͤllig aufgeschnallt. Mit Schimpfen ließ er die Bevestigung geschehen, mußte wieder mit Gewalt zum Einnehmen gezwungen werden, und bis Nachmittags drei Uhr wuͤthete er graͤßlich. Nachher sprach er mit den Leuten viel, wurde lustig, und auf Bitten brachten ihn die Waͤrter auf einen Stuhl ans Fenster, wo er eine Stunde vergnuͤgt saß, und sich wieder willig niederlegte, auch dieser 39ste Tag gelassen beendiget wurde.
Mit heftigem Lermen wachte er am 40sten Morgen um 5 Uhr auf, daß wir ihn vernehmlich
im andern Zimmer hoͤren konnten; nachdem er Thee getrunken und etwas Semmel gegessen, beruhigte er sich bis um acht Uhr, dann ging es wieder los, der Barbier konnte beim Fliegenpflasterverbinden nicht fertig mit ihm werden, gegen den Arzt, so nachgebend dieser sich auch bezeigte, war er aͤusserst muͤrrisch und drohend, aß außer der Suppe nichts und klagte uͤber Kopfweh. So dauerte es bis um zwei Uhr, wo er zu weinen anfing, traurig wurde, und auch von gewissem baldigem Sterben sprach; keine Medicin nahm er mehr, und als der Zwang ihn dazu brachte, spuckte er sie erst weg, dann schluckte er sie zwar hinunter, brachte sie aber mit dem Finger im Halse wieder hervor, und brach sie mit Ungestuͤm nebst dem zu sich genommenen Obst fort. Um fuͤnf Uhr ging das Weinen wieder an, er stoͤhnte viel und wollte sterben. Da der Arzt gern ein Clystier beigebracht haben wollte, so wurde er durch den Barbier, der durch Ernst und Scherz uͤber ihn am meisten vermochte, dazu gebracht, doch unter dem Versprechen, ich sollte zu ihm kommen, welches diese Wochen her, auf Geheiß des Arztes, noch nicht geschehen war, so oft er auch gut und hart darnach verlangt hatte; auch die Mutter wuͤnschte er den Abend zu sehen. Diese Zusage ward geleistet, wenn er sich wuͤrde ruhig haben ein Clystier setzen lassen, und nach geschehener Sache, die gut wirkte, kam ich allein zu ihm, umarmte ihn zaͤrtlich, und ward freudig empfangen.
Vorher, ehe das Lavement gesetzt wurde, richtete er sich auf, hielt eine Predigt uͤber die Unsterblichkeit der Seele, vollstaͤndig mit Einleitung und richtiger Eintheilung, auch Beobachtung des Gesanges, wie gewoͤhnlich. Mit philosophischen Gruͤnden fing er den Beweis an, blieb eine Viertelstunde lang in der Ordnung, dann mischte er verwirrte Geschichte darunter, beschloß aber mit einer guten Anwendung.
Die Mutter folgte auf sein Verlangen mir nach, und er begehrte, daß ich ihm Lieder vorlesen sollte, woruͤber er um eilf Uhr einschlief und fruͤh um sechs Uhr sein vorgeschriebenes Fruͤhstuͤck wohlschmeckend genoß. Um sieben war die Einnehmezeit, welches er von mir annahm, und bis Mittags um eilf Uhr sanft schlief, daß auch der Arzt, ohne ihn zu sprechen, wieder wegging. An diesem 41sten Tage bekam er zum erstenmal Kalbfleischsuppe, beides schmeckte ihm gut. Er schlief gut, nur weigerte er den Arzneigebrauch des Morgens, bis ich dazu kam, und war er diesen Tag uͤber nur wenig muͤrrisch. Jn dieser Nacht versuchte er wieder — was schon mehrmalen geschehen war — die spanischen Fliegen loszubinden, und dieß gelang ihm zuweilen heimlich, so genau auch die Waͤchter aufpaßten; er hinterging sie oft, denn viele List und Verstellung war uͤberhaupt bei seinem Betragen.
Weil er am 43sten Tage wiederum von den Leuten nicht einnehmen wollte, drang ich darauf, und
er folgte nachher immer. Am darauf folgenden, weil ich bemerkt hatte, daß die hellen Zwischenraͤume zunahmen, sich auch die anhaltende Soldatenidee, wenigstens in meiner Gegenwart, wo er stets ansichhaltender war, verwischte, legte ich ihm Gemaͤlde und Kupferstiche vor, die er mit Vergnuͤgen durchsah, und vorzuͤglich uͤber die rothe Farbe eines kleinen Bildes heitere Empfindung aͤußerte, und sich lange dabei verweilte; bei den Kupferstichen ging es hurtiger, und es sollte immer Abwechselung kommen. Des Abends sprach er zu meiner unausdruͤckbaren Freude lange zusammenhaͤngend mit mir; wir spielten Karten, zogen Dame, und alles geschah mit wenigen Fehlern. Auch mit dem Arzt hatte er sich gut unterhalten. Sowohl am Tage als die Nacht drauf erquickte ihn der Schlaf, und der 45ste Tag blieb dem vorigen gleich, insbesondere so lange ich bei ihm war; alsdann fing er mehr mit den Leuten allein zu reden an, und delirirte wieder, nur alles gemaͤßigt. Die zwei naͤchsten Tage wurden etwas muͤrrischer und verworrener zugebracht, allein im Ganzen ging es doch vorwaͤrts.
Am 48sten Tage ward er zum erstenmal am Stocke von den Waͤrtern im Zimmer herumgefuͤhrt, und die Schwaͤche war nicht so stark, als man besorget hatte. Weil er den Tag uͤber viel geschlafen, war er des Nachts unruhig, und hatte die Karten alle aufgeloͤst und zerrissen: jedoch erwachte er heiter, wollte wieder herumgehen, beim
Aufsteigen bildete er sich aber ein, der eine Fuß sey durch die spanische Fliege kuͤrzer geworden, und wollte nicht auftreten. Viel Ueberredung kostete es, um ihm vom Gegentheil zu uͤberfuͤhren; endlich gelang es, und er ging selbst ohne Stock eine Stunde lang auf und ab, bezeigte sich gegen den Arzt sehr gesittet, der Zusammenhang im Reden wuchs an, die Ueberlegung aͤußerte sich merklich, und so wurden fuͤnf Tage mit Gehen, Sprechen, guter Wirkung der oͤfnenden Mittel, geschmackvollen Appetit und sanftem Schlaf trostvoll zugebracht.
Den 54sten Tag wollte er sich selbst gern mit etwas beschaͤftigen, hatte schon vorher eine Stunde im Kinderfreund gelesen, und die Mutter gab Farben, um einen Kupferstich zu illuminiren, wobei gut angefangen, hernach aber nur gesudelt wurde; gegen Abend ward wieder mehr gefaselt, um zehn spielte er mit den Waͤchtern Karte, allein konfus, ich ließ sie weglegen, und er schlief sieben Stunden. Nach dem Fruͤhstuͤck und Einnehmen ward wieder einige Stunden geschlafen, dann mochten die geschaͤrften Pflaster ihn verdrießlich machen, indessen griff er Nachmittags wieder zum Malen; man wollte ihm bessere Anleitung dazu geben, er widersprach und glaubte es gut zu machen, sprach auch viel und unzufrieden untereinander bis gegen Abend, wo ich mich mit ihm unterhielt und Ordnung im Reden war; doch war die Nacht sehr unruhig und mit Schimpfen auf die Waͤchter bis drei
Uhr zugebracht. Um fuͤnf erwachte er schon wieder. Dieser 56ste Tag ward auch muͤrrisch verbracht, und wollte er gar nichts vornehmen; der folgende erschien heiter und blieb so. Heute ging er auch wieder viel auf und ab. Eben so verfloß der 57ste.
Am 58sten fiel ihm eine Schreibtafel ein, die er glaubte mitgebracht zu haben, da man sie aber nicht fand, auch ungewiß war, ob er sie bei dem Anfang der Krankheit nicht weggeschenkt hatte — denn die ersten Wochen gab er alles an seine Waͤrter weg, und man mußte die Sachen verbergen — argwohnte er, die Mama wolle sie ihm nur nicht geben, ward daruͤber aͤußerst verdrießlich und hernach gegen den Waͤrter sehr zornig; indessen ging auch dieß voruͤber, und dieß war die erste Nacht, wo nur ein Waͤchter bei ihm blieb.
Den 59sten stand er schon gegen sieben Uhr auf, ging herum, beschaͤftigte sich mit Malen und Lesen, jedoch nicht gluͤcklicher als vorher, schlief Nachmittags, und gegen Abend war er beim Besuch seines geistlichen Freundes gut, nur auf die letzt, als ihm derselbe einiges nicht in seinen Kram dienendes anrieth, schwaͤrmte er etwas verdrießlich. Nach einem siebenstuͤndigen Schlaf erwachte er muͤrrisch, sprach uͤbel aufgeraͤumt, weinte uͤber ein trauriges zukuͤnftiges Schicksal, und mein Zureden griff wenig ein, denn auch mit meiner Begegnung war er unzufrieden.
So fing der 61ste Tag auch wieder an; er bat mich, ihn sich allein zu uͤberlassen, setzte sich im Win-
kel und war ganz HeautontimorumenosHeavtontumorumenos. Diesen Tag war der Soldat Waͤrter, welchen er nie wegen seiner Schulkenntnisse und Ermahnen leiden konnte. Schon seit einer Woche lag er des Tages unangebunden im Bette; einmal ging ich heraus, und weil er gegen mich hoͤchst muͤrrisch sich betragen hatte, erinnerte ihn der Soldat, wie viel Muͤhe ich seinetwegen haͤtte, er solle es besser erkennen u.s.w. Ploͤtzlich fuhr er aus dem Bette heraus, ohrfeigte denselben, und das Maͤdchen, die just im Zimmer war, erhielt mit dem Strick, der noch am Gurt war, auf Arm und Ruͤcken einige Schlaͤge. Man rief mich, ich konnte nicht sogleich ihn besaͤnftigen; er schrie laut uͤber unanstaͤndiges Begegnen der Leute, welches aber falsch war; doch mußte er sich wieder das Anbinden gefallen lassen. Dem herbeigeholten Arzt ward gleichfalls schnoͤde begegnet, aber wie derselbe befahl, auf die alte Art hart mit ihm umzugehen, wurde er geschmeidiger, zog sich gleich selbst aus, und ruͤhrte sich nicht aus dem Bette. Von zwei bis fuͤnf Uhr des Nachmittags schlief er hierauf, war beim Erwachen artig und ordentlich gegen mich, und blieb es so.
Nach einem dreistuͤndigen Schlaf weckte ihn am 62sten Tage ein heftiger Nachtsturm um ein Uhr, der Fensterscheiben entzweiriß, und nochmals um vier Uhr erweckte ihn ein morschgewordenes Stuͤck Gesims, welches von der Stubendecke mit Krachen herabfiel und Staub um und auf sein Bette brach-
te; gegen die Waͤchter zeigte er sich deshalb voll Schreck und Furcht, wie ich zu ihm kam, erzaͤhlte er den Vorfall mit Unruhe und Besorgniß mehrerer Gefahr. Anfaͤnglich hatte ich Muͤhe, ihn zu beruhigen, hernach aber wurde er uͤberzeuget von der Unschaͤdlichkeit fuͤr ihn, nahm den Arzt sehr gesittet und freundlich an, las und malte den Tag uͤber mit weit besserem Erfolg wie sonst, und sprach mit mir vernuͤnftig; doch, wenn ich abwesend war — wie schon bemerket worden — ging mit den Leuten wieder das geschwindere Sprechen und auch das unwahre Erzaͤhlen von Vorfaͤllen am verlassenen Ort an, nur gemaͤßigter und schwaͤcher.
Von heut an wurden die Fliegenpflaster weggelassen. Der 63ste Tag war vollstaͤndig ein ordentlicher zufriedener Zeitpunkt, und die Selbstbeschaͤftigungen gingen gut von statten, so wie seine Leibeskraͤfte merklich zunahmen, welche uͤberhaupt, nach einem so langen heftigen Leiden, nicht allzusehr gesunken waren. Ein siebenstuͤndiger Schlaf verursachte ein froͤliches Erwachen und einen vollkommen heitern Tag. Es war mein Geburtstag; gleich fruͤh beschaͤftigte er sich mit Malen, und da mir das Maͤdchen gesagt hatte, wie er feines Papier holen lassen, und schon einige Tage vorher bei seinem Vetter Band malen zu lassen hatte bestellen wollen, so vermuthete ich einen Gluͤckwunsch und ließ ihn des Morgens meist allein. Wie wir bei Tisch saßen, schickte er auf einem Teller einen mit
Einfassung selbst gemalten halben Bogen, worin beiliegende Reime mit dem Pinsel geschrieben waren.
HORATIUS. Grata superveniet, quae non sperabitur hora.
Sie sind vorbei die Stunden Von jugendlichem Lenz; Fuͤr mich sind sie verschwunden; Die Rose ist schon hin, Die einst im Lenz Dir bluͤhte, Der Sterblichen Gewinn. Du Rose! o Liebling der Goͤtter, Des Fruͤhlings groͤßter Stolz. Du Schmuck der goldgeschmuͤckten Flur! O, daß die reizende Natur Am heut'gen Freudenfest Dich, meinen Vater, kroͤnte! O, daß Philomele Mit Silberton Doch baute ihr Nest! Jhm muͤsse Autumnus selbst gruͤnen An Pallas milder Hand! Stets sey das Gewebe des Lebens So glatt, so rosenfarb und licht, Als moͤglich ist! Doch, was soll ich erst wuͤnschen,
Dir alles erst wuͤnschen,
Was Deiner so werth?
Das Gluͤck erst beschweren,
Den Wunsch zu erhoͤren,
Daß Dich es verehrt. Nur unter Scherz und Kuͤssen,
Muß er Dir froh verfließen
Der Winter des Lebens!
Nicht sey er vergebens,
Mein Herzenswunsch!
O, traͤf er doch ein!
Wie froh wollt' ich seyn. Am nichtvergessenen 17ten Nov. 178-. Voller Freude wurde er, wie ich ihn geruͤhrt dafuͤr umarmte, und Zaͤhren flossen unsere Wangen herab. Wie eine schoͤne Sommernacht verfloß dieser frohe Tag eilig, und ein neunstundenlanger Schlaf hatte meinen lieben Genesenden augenscheinlich erquicket. Voll Zufriedenheit erwacht fuͤhrte ich ihn am 64sten Morgen zum erstenmal in unser Wohnzimmer, wo ihm alles neu war; voll Vergnuͤgen besah er die darin haͤngenden Bilder und ließ uͤberhaupt viele Neubegierde blicken, sah alles durch, doch hielt er sich bei keinem lange auf. Jch ließ ihn laut lesen, welches mit Bedacht und Empfindung des Jnhalts geschah, nur zu geschwind und mit zu lauter Stimme, die aber ihm angemessen der Sache schien.
Eine der vorigen ruhigen Nacht gleiche erfolgte hierauf, und so zwey aͤhnliche Tage; außer daß er den zweiten Abend, da er Griechisch und Latein mit Emphasi einige Zeit las, und die Mutter ihn davon abrieth, weil diese Beschaͤftigung noch zu zeitig und zu ernsthaft sey, verdrießlich wurde und in seine Stube verlangte, auch, da ich bei seinem Abendessen verblieb, daruͤber mit selbiger noch immer haderte; so wie ich bei dieser Gelegenheit eine wi-
drige Wendung seiner sonstigen Gesinnungen gegen die Stiefmutter anmerke, die er immer geachtet und geliebt. Diese widrige Gesinnung hatte sich waͤhrend der Krankheit so fest eingewurzelt, daß es mir Ueberredungskunst und wirklich Muͤhe gekostet hat, ihn nach und nach ins alte Geleise gegen selbige zu leiten; und lange Zeit erst nach der voͤlligen Wiedergenesung ist es mir gelungen, das alte Zutrauen wieder zu erregen und zu bevestigen.
Der 67ste Tag war wieder mit truͤben Wolken umzogen. Noch mußte er auf Anrathen des Arztes den Gurt um den Leib behalten, und des Nachts zu mehrerer Sicherheit an der Bettstelle mit dem Strick bevestiget werden: dieß war ihm schon seit einigen Wochen ein Hauptanstoß gewesen, und da die Fliegenpflaster hinwegwaren, wollte er auch diesen nicht mehr dulden. Oft satyrisirte er uͤber diese Vorsicht lachend, oft aber murrte er auch bitter und wehmuͤthig daruͤber; indessen kamen wir der Vorschrift des einsichtsvollen und sicher handelnden Arztes nach. Heut war er gleich des Morgens so gestimmt; Sanftmuth und Ernst vermochten von meiner Seite nichts zu bewirken, theils klagte er laut, theils weinend uͤber diese ihm anscheinende Haͤrte, und als am Abend der Geistliche ihn besuchte, machte selbiger auch mit seinen mancherlei Vorstellungen keinen Eindruck auf ihn, seine Gedanken duͤnkten ihm die richtigsten; so blieb er, und verließ uns unzufrieden, immer doch mehr
mir nachgebend als der Mutter, deren Belehrungen mit Unhoͤflichkeit erwiedert wurden; und sie beschloß daher, ihn nun ganz gehen zu lassen und gleichguͤltig sich zu bezeigen.
Er schien den folgenden Tag nicht darauf zu merken, war zwar aufgeraͤumter, weil der Barbier das Heilungspflaster von den Waden nahm und zum letztenmale bei ihm war, sonst aber betrug er sich, ausgenommen gegen mich, vier Tage lang etwas spoͤttisch und achtungsloß gegen dieselbe.
Am 72sten Tage schien helle Sonne bei ihm; der Arzt befreyete ihn vom Gurte, und nun zog Zufriedenheit, Folgsamkeit und anstaͤndiges Betragen gegen einen jeden bei ihm ein. So dauerte es fort, und die Munterkeit nebst richtiger Ueberlegung wuchsen sichtbar an. Der Gebrauch seiner zeitherigen aufloͤsenden und abfuͤhrenden Mittel endigte sich am 77sten Tage, wo er staͤrkende Tropfen erhielt, und Nachts und Tags viel und staͤrkend alle Tage schlief. Den folgenden Tag fuhr ich mit ihm zum erstenmal aus, Reden und Befragen blieb vollstaͤndig gut, und die Urtheilskraft hatte wieder Festigkeit bekommen. Herzlich vergnuͤgt kamen wir nach Hause, und das Vesperbrodt war Nektar und Ambrosia fuͤr ihn.
Seitdem blieben auch die verdrießlichen Unterredungen aus; auch die unzuͤchtigen Reden und Geberden waren weg, wovon er besonders die obscoͤnesten vorgebracht hatte; obschon ich außer allem Zweifel
versichert war und bin, weder dergleichen That noch Worte sind je von ihm in seinem natuͤrlichen Zustande vorgenommen worden: gegentheils ist er fuͤr seine Jahre noch sehr schamhaft. Gegen uns aͤußerte er nichts mehr von der Neigung zum Soldatenstand; allein gegen die Waͤchter und uͤbrigen Leute versicherte er es noch, und wuͤnsche er nur, es mir schon vorgetragen zu haben.
Am 86sten Tage gingen die Waͤchter ab, und ich legte mich in seine Stube, wo auch die Nacht von nun an alles ruhig ablief, so wie der gute Schlaf die Kraͤfte merklich staͤrkte.
Den 89sten Tag ging ich mit ihm zu Fuß spatzieren, und am 92sten that er es in der Stadt allein, ohne daß Furcht oder Bloͤdigkeit nach so langwieriger Stubenhuͤtung bemerkt wurde. Den 94sten ging er mit dem Großvater zufrieden auf den Jahrmarkt, kam mit Beaͤngstigungen nach Hause, die sich aber den folgenden Tag verloren hatten, und so fuhr er fort, seine alten Freunde zu besuchen, die nichts veraͤndertes an ihm verspuͤrten; und endlich wurde er den 107ten Tag von aller Arzenei freigesprochen, mit der Erlaubniß, mit uns die gewoͤhnlichen Speisen zu genießen, und seine alte Lebensart wieder anzufangen, doch zu ernste Beschaͤftigungen noch zu vermeiden.
So hatte also dieser schaudervolle Zustand uͤber drei Monate hier gedauret, und wenn ich den vorhergegangenen Tiefsinn in seinem Schulort hinzu-
rechne, ist er an acht Monate Patient gewesen. Durch keine ausschweifende Lebensart hat er sich dieß Uebel zugezogen, denn vorerst hat er nie Neigung dazu unter meiner Aufsicht im geringsten spuͤren lassen; und an dem Schulorte war er bei Verwandten, die genau auf ihn Obacht hatten, und auch nie etwas dergleichen bemerket haben. Jm Gegentheil, man hat ihn vom Fleiß zuruͤckhalten und in Gesellschaften oft zwingen muͤssen, wo er aber denn auch gern war, wenn selbige nach seinem Geschmack waren. — Seine nun taͤglich zunehmende und daurende Gesundheit war mit keiner Abaͤnderung seiner sonstigen Konstitution verbunden, als daß er die ersten Monate oft stiller wie gewoͤhnlich war; uͤbrigens nahm er seine Schularbeiten fuͤr sich bald wieder vor, und mußte von den mathematischen Beschaͤftigungen abgehalten werden, nach denen er am liebsten griff.
Da mir hinterbracht wurde, sein Soldatenhang blieb unbeweglich, und er sich gegen mich daruͤber nicht ausließ, die Gelegenheit indessen entstand, wo ich meinem Oberen uͤber ihn muͤndlich Nachricht zu geben hatte, so fing ich davon an, und foderte seine wahre Entschließung vorher daruͤber: das fuͤr und dawider wurde ventilirt, und das Resultat blieb dafuͤr. Wie er dieses vom Herzen hatte, ward er wieder munterer, und es wurden Veranstaltungen getroffen, um diesen Endzweck vortheilhaft zu erreichen. Hieruͤber ging der Fruͤhling und
ein Theil des Sommers vorbei, die er sehr heiter und gesellig zubrachte. Er bezeigte sich wirklich munterer und zufriedener, als in seinen juͤngeren Jahren.
Um sich im Reiten zu uͤben, besuchte er seinen Großvater auf dem Lande, that mit diesem verschiedene kleine Reisen, ließ sichs wohl schmecken, und brachte drei Wochen nach seinen mir geschriebenen Nachrichten sehr vergnuͤgt und auch nuͤtzlich zu. Ganz unvermuthet kam er mit diesem zuruͤck, weil einige Tage vor der Abreise wieder kleine Anfaͤlle von Ueberspannung und lautem Betragen bei Tag und Nacht bemerkt worden waren, welche vermuthlich durch zu gute reichliche Kost, uͤbermaͤßige Bewegung bei der Hitze, mathematische und theologische Ausarbeitungen ihren Ursprung herhaben mochten.
Auf eine Aderlaß und die abfuͤhrenden Mittel wurde sogleich der schlimmere Fortgang gehemmet. Jndessen ereigneten sich einige hitzige Auftritte, wo ich Ernst anwenden mußte, um sie zu unterdruͤcken, und die wieder Spuren vom alten Uebel zeigten. Sie verloren sich aber bald, und Lustigkeit trat an die Stelle, wobei er beim Lesen von Dichtern eine Menge scharfsinniger Anspielungen auf Bekannte extemporirte, und Liebestrieb wiederum aͤußerte, doch gemaͤßigt und anstaͤndig; sonst spuͤrte man keine Unordnungen, und nach Verlauf von acht Tagen genossen wir wieder der schoͤnen Herbstwitte-
rung zusammen vergnuͤgt und wie im gesundem Zustande.
Nur uͤberraschende Hitze uͤbereilte ihn zuweilen bei kleinen Anlaͤßen. Doch wurden uͤberzeugende Proben von Geistesfaͤhigkeit abgelegt, indem er unter andern drei angehoͤrte Predigten zu Hause so umstaͤndlich aufsetzte, nach Verlauf einer Stunde darauf, daß der Geistliche sie beim Durchlesen vollkommen seinen gehaltenen gleich fand.
Mein Amt erfoderte in diesen Monaten oͤftere Reisen aufs Land, wo er reitend und fahrend mich begleitete, vergnuͤgt und artig war, nur zu freigebig sich gegen die Einwohner erwieß, welches seiner Boͤrse nicht angemessen sich befand; doch streute er ohne alles Geraͤusch und heimlich seine Geschenke aus.
Zuweilen zeigte er in der Stadt beim Gruͤßen noch zu viel Hoͤflichkeit, ohne den zu bemerkenden Unterschied des Standes; und nur ein Anschein von Beleidigung von jemand veranlaste zu hitzige Gegenbegegnung. Jn einigen Wochen darauf verlor sich aber dieses alles voͤllig; und durch ein bei einer gewissen Gelegenheit von mir gegen ihn geaͤußertes grosses Zutrauen in seine uͤberlegende Beurtheilung ward er sichtlich dahin gebracht, sorgfaͤltig auf sein Betragen gegen jedermann von selbst acht zu haben, und seitdem ist er vollstaͤndig der alte gute, gesittete Juͤngling. Gott lasse ihn so fortfahren!
Folgende Anmerkungen will ich noch beifuͤgen: Viel gelitten habe ich, und anfaͤnglich konnte ich mich gar nicht uͤberreden, daß dieses so schrecklich abgeaͤnderte Betragen, und diese Aeußerungen eines sonst so gutgearteten Sohnes, natuͤrliche Ereignisse der Art von Krankheit waͤren.
Jch kraͤnkte mich innerlich; Verfuͤhrung am fremden Ort, dachte ich, bringe manche Zote, manches pflichtwidrige Kindesbetragen hervor. Nur seine so oft wiederholten Betheuerungen von laͤngst angewohnter Verstellung, und das laͤsterliche Ausstoßen gegen Schoͤpfer und Religion richteten mich auf, da ich ihn bis in das 16te Jahr um mich gehabt und seinen moralischen Charakter genau kennen gelernt hatte, daß es unmoͤglich sey, so ploͤtzlich vom Guten ins Schlimme uͤberzugehen, um so mehr, weil er die drittehalb Jahre seiner Abwesenheit woͤchentlich die besten Zeugnisse von Fleiß und Auffuͤhrung von saͤmmtlichen Lehrern in zugeschickten sogenannten Conduitenzettels bei der achttaͤgigen festgesetzten Conferenz ununterbrochen erhalten hatte. Auch die Funken von sonstiger Zuneigung, Gehorsam und Furcht gegen mich, welche bei den hellen Zwischenraͤumen durchspruͤhten, beruhigten mich dann und wann, und Hofnung gewann die Oberhand, da selbige bei dem voll Menschenliebe weisen Arzt, wegen der Jahre des Kranken und seiner mehrmaligen Erfahrung dergleichen Zufaͤlle, nie sank, auch
mein guter Sohn werde wieder in seinem natuͤrlichen Zustand zuruͤckkehren.
Meine Vermuthungen der Entstehungsursachen dieser Schaudererregenden Unordnungen in seiner Maschine gehen dahin, daß die Begierde, hervorzuragen — denn von jeher war Ehrbegierde der Haupttrieb zum angestrengten Fleiß — uͤber seine Mitschuͤler, wo er meistentheils den Preis davon getragen hatte, obschon Naturfaͤhigkeiten nicht die ergiebigsten waren, den Kopf zu sehr angegriffen und hauptsaͤchlich mit zu vielerlei fuͤr sich, ohne weise Gradation, uͤberladen hatte. Hiezu trat ein Sterbefall eines geschaͤtzten Freundes, den er in der Krankheit besorgt hatte, auch einige fuͤr sein weiches Herz empfindsame haͤusliche Ereignisse, welches zusammengenommen Nerven und Fibern, die zeither uͤberspannt worden waren, auf einmal herabgeschwaͤcht hatte; wozu noch das zwanzigjaͤhrige Alter eines sonst vollen, gesunden Juͤnglings bei guter Kraft und Enthaltsamkeit, auch manches beigetragen haben mag.
Fast bin ich uͤberzeugt, nicht daruͤber im Jrrthum zu seyn; so wie ich zugleich in diesem traurigen Zeitpunkt noch gewisser geworden bin, wie vielen Einfluß der Mechanismus des Koͤrpers auf die Seelenwirkungen habe, und daß es Schwachheit sey, gleich uͤber Materialisterei zu schreien,
wenn der philosophische Physiolog glaubet, daß materielle Dinge durch Mittelursachen etwas uͤber geistige Wirkungen vermoͤgen, und daß mechanische Veraͤnderungen einigen Einfluß auf Denken und Wollen haben. Der koͤrperliche so wie der geistige Theil des Menschen sind beides Theile eines Ganzen, und stehen folglich in der genauesten Verbindung miteinander.