Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785.
Kaum war ich eine halbe Stunde weit von Diepholtz, nach meiner Abreise, entfernt, als sich allerlei ängstliche Vorstellungen, über den baldigen Tod meiner Kranken, von neuem recht lebhaft bei mir einfanden. Durch meine Abreise glaubte ich die Pflichten als Arzt und Freund verletzt zu haben -- ich stellte mir die Folgen meines Vergehens von der schlimmsten Seite vor, kurz meine Jmagination mahlte mir die schrecklichsten Bilder. Von der andern Seite bemühte ich mich mit kalter Vernunft das Täuschende meiner Jmagination aufzudecken. Recht unpartheyisch wiederholte ich mir in Gedanken die Geschichte des Verlaufs und Entstehens und aller Zufälle der Krankheit; aber so sehr auch meine Pathologie und Semiotik mich fest überzeugten, daß es mit der Krankheit nichts auf sich habe, so vermogte doch meine Vernunft nichts gegen meine innere Empfindung. Jch fühlte es, daß die letztere mit der erstern davon lief, und ich konnte es nicht ändern. -- So war ich nun im heftigsten Selbstkampf beinah zwei Meilen weit weggeritten, als sich meiner Brust eine so grosse Beklemmung bemächtigte und mein Herz so heftig zu schlagen anfing, daß ich nicht weiter reiten konnte. Noch einmal erwägte ich, was das Publikum von meiner
Kaum war ich eine halbe Stunde weit von Diepholtz, nach meiner Abreise, entfernt, als sich allerlei aͤngstliche Vorstellungen, uͤber den baldigen Tod meiner Kranken, von neuem recht lebhaft bei mir einfanden. Durch meine Abreise glaubte ich die Pflichten als Arzt und Freund verletzt zu haben — ich stellte mir die Folgen meines Vergehens von der schlimmsten Seite vor, kurz meine Jmagination mahlte mir die schrecklichsten Bilder. Von der andern Seite bemuͤhte ich mich mit kalter Vernunft das Taͤuschende meiner Jmagination aufzudecken. Recht unpartheyisch wiederholte ich mir in Gedanken die Geschichte des Verlaufs und Entstehens und aller Zufaͤlle der Krankheit; aber so sehr auch meine Pathologie und Semiotik mich fest uͤberzeugten, daß es mit der Krankheit nichts auf sich habe, so vermogte doch meine Vernunft nichts gegen meine innere Empfindung. Jch fuͤhlte es, daß die letztere mit der erstern davon lief, und ich konnte es nicht aͤndern. — So war ich nun im heftigsten Selbstkampf beinah zwei Meilen weit weggeritten, als sich meiner Brust eine so grosse Beklemmung bemaͤchtigte und mein Herz so heftig zu schlagen anfing, daß ich nicht weiter reiten konnte. Noch einmal erwaͤgte ich, was das Publikum von meiner <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0082" n="82"/><lb/> der Krankheit dachte, eingerichtet war, zu Papier, und erklaͤrte diese meinem Apotheker, dem ich in meiner Abwesenheit alle meine Kranken uͤbertrug, aufs genaueste. </p> <p>Kaum war ich eine halbe Stunde weit von Diepholtz, nach meiner Abreise, entfernt, als sich allerlei aͤngstliche Vorstellungen, uͤber den baldigen Tod meiner Kranken, von neuem recht lebhaft bei mir einfanden. Durch meine Abreise glaubte ich die Pflichten als Arzt und Freund verletzt zu haben — ich stellte mir die Folgen meines Vergehens von der schlimmsten Seite vor, kurz meine Jmagination mahlte mir die schrecklichsten Bilder. Von der andern Seite bemuͤhte ich mich mit kalter Vernunft das Taͤuschende meiner Jmagination aufzudecken. Recht unpartheyisch wiederholte ich mir in Gedanken die Geschichte des Verlaufs und Entstehens und aller Zufaͤlle der Krankheit; aber so sehr auch meine Pathologie und Semiotik mich fest uͤberzeugten, daß es mit der Krankheit nichts auf sich habe, so vermogte doch meine Vernunft nichts gegen meine innere Empfindung. Jch fuͤhlte es, daß die letztere mit der erstern davon lief, und ich konnte es nicht aͤndern. — So war ich nun im heftigsten Selbstkampf beinah zwei Meilen weit weggeritten, als sich meiner Brust eine so grosse Beklemmung bemaͤchtigte und mein Herz so heftig zu schlagen anfing, daß ich nicht weiter reiten konnte. Noch einmal erwaͤgte ich, was das Publikum von meiner<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [82/0082]
der Krankheit dachte, eingerichtet war, zu Papier, und erklaͤrte diese meinem Apotheker, dem ich in meiner Abwesenheit alle meine Kranken uͤbertrug, aufs genaueste.
Kaum war ich eine halbe Stunde weit von Diepholtz, nach meiner Abreise, entfernt, als sich allerlei aͤngstliche Vorstellungen, uͤber den baldigen Tod meiner Kranken, von neuem recht lebhaft bei mir einfanden. Durch meine Abreise glaubte ich die Pflichten als Arzt und Freund verletzt zu haben — ich stellte mir die Folgen meines Vergehens von der schlimmsten Seite vor, kurz meine Jmagination mahlte mir die schrecklichsten Bilder. Von der andern Seite bemuͤhte ich mich mit kalter Vernunft das Taͤuschende meiner Jmagination aufzudecken. Recht unpartheyisch wiederholte ich mir in Gedanken die Geschichte des Verlaufs und Entstehens und aller Zufaͤlle der Krankheit; aber so sehr auch meine Pathologie und Semiotik mich fest uͤberzeugten, daß es mit der Krankheit nichts auf sich habe, so vermogte doch meine Vernunft nichts gegen meine innere Empfindung. Jch fuͤhlte es, daß die letztere mit der erstern davon lief, und ich konnte es nicht aͤndern. — So war ich nun im heftigsten Selbstkampf beinah zwei Meilen weit weggeritten, als sich meiner Brust eine so grosse Beklemmung bemaͤchtigte und mein Herz so heftig zu schlagen anfing, daß ich nicht weiter reiten konnte. Noch einmal erwaͤgte ich, was das Publikum von meiner
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