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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785.

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dern größtentheils nur neue Wörter für schon vorhandene Begriffe bekennen. -- Schade! daß wir nur alle gar zu zeitig vergessen haben, wie viel damals die Entwickelung unsrer Jdeen; durch die Entwickelung unserer Sprache, und diese umgekehrt durch jene gewonnen hat; denn beide sind in einander gegründet, und ihr beiderseitiger großer Einfluß auf einander zeigt sich nachher sehr deutlich in der ganzen Geschichte des menschlichen Denkens und Empfindens.

Es ist leicht zu begreifen, daß Kinder von den unzählichen Sprachwörtern, womit gleich vom Anfang an ihr Ohr überladen wird, oft nur den kleinsten Theil verstehen. Sie können nicht eher bestimmte Begriffe von einer Sache haben, bis sie ihnen gezeigt wird, bis sie selbst Erfahrungen über ihre Beschaffenheiten angestellt haben. Jst aber die Menge von Wörtern womit ihr Gedächtniß frühzeitig angefüllt wird dem Fortkommen ihrer Begriffe nicht mehr höchst schädlich, als nüzlich? -- Mir ist das Erstere nicht ganz wahrscheinlich. Jn einem gesunden Zustande unserer Seele ist uns ein dunkeler Begrif immer etwas Unangenehmes. Schon an dem Kinde sehen wir eine starke Begierde sich deutliche Vorstellungen zu verschaffen, und bemerken eine innere Unruhe an ihm, wenn es nicht zu seinem Zwecke kommen konnte. Der Trieb der menschlichen Seele, ihre Vorstellungen zu erweitern, ist ein mächtiger Trieb (und man kann


dern groͤßtentheils nur neue Woͤrter fuͤr schon vorhandene Begriffe bekennen. — Schade! daß wir nur alle gar zu zeitig vergessen haben, wie viel damals die Entwickelung unsrer Jdeen; durch die Entwickelung unserer Sprache, und diese umgekehrt durch jene gewonnen hat; denn beide sind in einander gegruͤndet, und ihr beiderseitiger großer Einfluß auf einander zeigt sich nachher sehr deutlich in der ganzen Geschichte des menschlichen Denkens und Empfindens.

Es ist leicht zu begreifen, daß Kinder von den unzaͤhlichen Sprachwoͤrtern, womit gleich vom Anfang an ihr Ohr uͤberladen wird, oft nur den kleinsten Theil verstehen. Sie koͤnnen nicht eher bestimmte Begriffe von einer Sache haben, bis sie ihnen gezeigt wird, bis sie selbst Erfahrungen uͤber ihre Beschaffenheiten angestellt haben. Jst aber die Menge von Woͤrtern womit ihr Gedaͤchtniß fruͤhzeitig angefuͤllt wird dem Fortkommen ihrer Begriffe nicht mehr hoͤchst schaͤdlich, als nuͤzlich? — Mir ist das Erstere nicht ganz wahrscheinlich. Jn einem gesunden Zustande unserer Seele ist uns ein dunkeler Begrif immer etwas Unangenehmes. Schon an dem Kinde sehen wir eine starke Begierde sich deutliche Vorstellungen zu verschaffen, und bemerken eine innere Unruhe an ihm, wenn es nicht zu seinem Zwecke kommen konnte. Der Trieb der menschlichen Seele, ihre Vorstellungen zu erweitern, ist ein maͤchtiger Trieb (und man kann

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[87/0089] dern groͤßtentheils nur neue Woͤrter fuͤr schon vorhandene Begriffe bekennen. — Schade! daß wir nur alle gar zu zeitig vergessen haben, wie viel damals die Entwickelung unsrer Jdeen; durch die Entwickelung unserer Sprache, und diese umgekehrt durch jene gewonnen hat; denn beide sind in einander gegruͤndet, und ihr beiderseitiger großer Einfluß auf einander zeigt sich nachher sehr deutlich in der ganzen Geschichte des menschlichen Denkens und Empfindens. Es ist leicht zu begreifen, daß Kinder von den unzaͤhlichen Sprachwoͤrtern, womit gleich vom Anfang an ihr Ohr uͤberladen wird, oft nur den kleinsten Theil verstehen. Sie koͤnnen nicht eher bestimmte Begriffe von einer Sache haben, bis sie ihnen gezeigt wird, bis sie selbst Erfahrungen uͤber ihre Beschaffenheiten angestellt haben. Jst aber die Menge von Woͤrtern womit ihr Gedaͤchtniß fruͤhzeitig angefuͤllt wird dem Fortkommen ihrer Begriffe nicht mehr hoͤchst schaͤdlich, als nuͤzlich? — Mir ist das Erstere nicht ganz wahrscheinlich. Jn einem gesunden Zustande unserer Seele ist uns ein dunkeler Begrif immer etwas Unangenehmes. Schon an dem Kinde sehen wir eine starke Begierde sich deutliche Vorstellungen zu verschaffen, und bemerken eine innere Unruhe an ihm, wenn es nicht zu seinem Zwecke kommen konnte. Der Trieb der menschlichen Seele, ihre Vorstellungen zu erweitern, ist ein maͤchtiger Trieb (und man kann

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0301_1785/89>, abgerufen am 30.04.2024.