Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785.Als er sich von ihr trennte, konnt' er sich nur mit Mühe aus ihren Armen reissen, sie weinte heftig (etwas, das ich nur sehr selten an ihr bemerkt habe) und rief zu mehrerenmalen aus, es ahndete ihr, daß ihm bald ein grosses Unglück zustossen würde. Hierauf beharrte sie auch den ganzen Rest des Tages über, und war trauriger, als ich sie je gefunden habe. Da die jetzige Lage ihres Gemüths mir nicht dazu gemacht schien, daß ich mich hätte zweckmäßig mit ihr über diesen Auftritt unterreden können, so nahm ich mir vor, einen günstigem Zeitpunkt abzuwarten. Dieser fand sich schon den andern Tag, sie war etwas ruhiger, und wurde durch mancherlei Zerstreuungen unvermerkt ein wenig aufgeheitert. Da sie selbst von dem Auftritt des vorigen Tages zu sprechen anfing, so nahm ich die Gelegenheit wahr, ihr eins und das andre, was ich auf dem Herzen hatte, darüber zu sagen, doch nicht in einem lächerlichen Ton, weil man sich dadurch bei Leuten von dieser Gemüthsart oft auf immer verdächtig und wohl gar verhaßt machen kann. Sie gestand mir, und ich konnte an ihrer Aufrichtigkeit nicht zweifeln, daß sie sich schon oft von ihrem jungen Vetter getrennt hätte, ohne nur jemals eine ähnliche Traurigkeit und Angst gefühlt zu haben. Sobald der Gedanke, daß ihm vielleicht ein Unglück zustoßen könnte, in ihr aufgestiegen Als er sich von ihr trennte, konnt' er sich nur mit Muͤhe aus ihren Armen reissen, sie weinte heftig (etwas, das ich nur sehr selten an ihr bemerkt habe) und rief zu mehrerenmalen aus, es ahndete ihr, daß ihm bald ein grosses Ungluͤck zustossen wuͤrde. Hierauf beharrte sie auch den ganzen Rest des Tages uͤber, und war trauriger, als ich sie je gefunden habe. Da die jetzige Lage ihres Gemuͤths mir nicht dazu gemacht schien, daß ich mich haͤtte zweckmaͤßig mit ihr uͤber diesen Auftritt unterreden koͤnnen, so nahm ich mir vor, einen guͤnstigem Zeitpunkt abzuwarten. Dieser fand sich schon den andern Tag, sie war etwas ruhiger, und wurde durch mancherlei Zerstreuungen unvermerkt ein wenig aufgeheitert. Da sie selbst von dem Auftritt des vorigen Tages zu sprechen anfing, so nahm ich die Gelegenheit wahr, ihr eins und das andre, was ich auf dem Herzen hatte, daruͤber zu sagen, doch nicht in einem laͤcherlichen Ton, weil man sich dadurch bei Leuten von dieser Gemuͤthsart oft auf immer verdaͤchtig und wohl gar verhaßt machen kann. Sie gestand mir, und ich konnte an ihrer Aufrichtigkeit nicht zweifeln, daß sie sich schon oft von ihrem jungen Vetter getrennt haͤtte, ohne nur jemals eine aͤhnliche Traurigkeit und Angst gefuͤhlt zu haben. Sobald der Gedanke, daß ihm vielleicht ein Ungluͤck zustoßen koͤnnte, in ihr aufgestiegen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0060" n="58"/><lb/> <p>Als er sich von ihr trennte, konnt' er sich nur mit Muͤhe aus ihren Armen reissen, sie weinte heftig (etwas, das ich nur sehr selten an ihr bemerkt habe) und rief zu mehrerenmalen aus, es ahndete ihr, daß ihm bald ein grosses Ungluͤck zustossen wuͤrde. Hierauf beharrte sie auch den ganzen Rest des Tages uͤber, und war trauriger, als ich sie je gefunden habe. </p> <p>Da die jetzige Lage ihres Gemuͤths mir nicht dazu gemacht schien, daß ich mich haͤtte zweckmaͤßig mit ihr uͤber diesen Auftritt unterreden koͤnnen, so nahm ich mir vor, einen guͤnstigem Zeitpunkt abzuwarten. </p> <p>Dieser fand sich schon den andern Tag, sie war etwas ruhiger, und wurde durch mancherlei Zerstreuungen unvermerkt ein wenig aufgeheitert. Da sie selbst von dem Auftritt des vorigen Tages zu sprechen anfing, so nahm ich die Gelegenheit wahr, ihr eins und das andre, was ich auf dem Herzen hatte, daruͤber zu sagen, doch nicht in einem laͤcherlichen Ton, weil man sich dadurch bei Leuten von dieser Gemuͤthsart oft auf immer verdaͤchtig und wohl gar verhaßt machen kann. </p> <p>Sie gestand mir, und ich konnte an ihrer Aufrichtigkeit nicht zweifeln, daß sie sich schon oft von ihrem jungen Vetter getrennt haͤtte, ohne nur jemals eine aͤhnliche Traurigkeit und Angst gefuͤhlt zu haben. Sobald der Gedanke, daß ihm vielleicht ein Ungluͤck zustoßen koͤnnte, in ihr aufgestiegen<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [58/0060]
Als er sich von ihr trennte, konnt' er sich nur mit Muͤhe aus ihren Armen reissen, sie weinte heftig (etwas, das ich nur sehr selten an ihr bemerkt habe) und rief zu mehrerenmalen aus, es ahndete ihr, daß ihm bald ein grosses Ungluͤck zustossen wuͤrde. Hierauf beharrte sie auch den ganzen Rest des Tages uͤber, und war trauriger, als ich sie je gefunden habe.
Da die jetzige Lage ihres Gemuͤths mir nicht dazu gemacht schien, daß ich mich haͤtte zweckmaͤßig mit ihr uͤber diesen Auftritt unterreden koͤnnen, so nahm ich mir vor, einen guͤnstigem Zeitpunkt abzuwarten.
Dieser fand sich schon den andern Tag, sie war etwas ruhiger, und wurde durch mancherlei Zerstreuungen unvermerkt ein wenig aufgeheitert. Da sie selbst von dem Auftritt des vorigen Tages zu sprechen anfing, so nahm ich die Gelegenheit wahr, ihr eins und das andre, was ich auf dem Herzen hatte, daruͤber zu sagen, doch nicht in einem laͤcherlichen Ton, weil man sich dadurch bei Leuten von dieser Gemuͤthsart oft auf immer verdaͤchtig und wohl gar verhaßt machen kann.
Sie gestand mir, und ich konnte an ihrer Aufrichtigkeit nicht zweifeln, daß sie sich schon oft von ihrem jungen Vetter getrennt haͤtte, ohne nur jemals eine aͤhnliche Traurigkeit und Angst gefuͤhlt zu haben. Sobald der Gedanke, daß ihm vielleicht ein Ungluͤck zustoßen koͤnnte, in ihr aufgestiegen
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0301_1785/60>, abgerufen am 15.08.2024. |