Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785.

Bild:
<< vorherige Seite


von Gott zu erringen glaubst, dem Ganzen nicht hindert. -- Bis denn endlich der Lauf der Dinge es zuläßt, daß durch Aufopferung vieler Tausende, dein Gebet erhöret werden kann. Unglücklicher Vorzug! auf die Glückstrümmer meiner Brüder, mein eignes zu gründen! -- Mein Herz kann sich unmöglich mit diesem Gedanken vertragen. Womit hatte es denn die Unglückliche verschuldet, daß ihr dieses schwere Kreuz aufgelegt wurde? Ein Kreuz, daß nicht erträglich gemacht werden konnte, als durch Verbrechen. -- So durchkreuzen sich die Schicksaale der Menschen: die Sünden des Einen, ziehn Sünden des Andern nach sich. Auf wem liegt nun die Schuld, und wer soll sie tragen? Wo soll die Kraft herkommen, wenn sie Gott nicht giebt? "Standhaft dulden und -- schweigen; keinen Fuß breit von seiner Pflicht abweichen, Gott um Unterwerfung, um Aendrung seines Schicksaals anflehen und gelassen dieselbe erwarten -- Das lehrt die Religion bei schwerem Kreuz."

Gut! aber wollen Sie noch einige meiner Zweifel anhören, die selbst die Erfahrung und der Begriff von Gott und seinen Eigenschaften zu bestätigen scheinen?

Dulden. Thut Gott jetzt noch Wunder? und wär es nicht Wunder, wenn das rasche, feurige Temperament auf einmal bis zu einer gewissen Trägheit, ohne vorhergegangne andere Umstände,


von Gott zu erringen glaubst, dem Ganzen nicht hindert. — Bis denn endlich der Lauf der Dinge es zulaͤßt, daß durch Aufopferung vieler Tausende, dein Gebet erhoͤret werden kann. Ungluͤcklicher Vorzug! auf die Gluͤckstruͤmmer meiner Bruͤder, mein eignes zu gruͤnden! — Mein Herz kann sich unmoͤglich mit diesem Gedanken vertragen. Womit hatte es denn die Ungluͤckliche verschuldet, daß ihr dieses schwere Kreuz aufgelegt wurde? Ein Kreuz, daß nicht ertraͤglich gemacht werden konnte, als durch Verbrechen. — So durchkreuzen sich die Schicksaale der Menschen: die Suͤnden des Einen, ziehn Suͤnden des Andern nach sich. Auf wem liegt nun die Schuld, und wer soll sie tragen? Wo soll die Kraft herkommen, wenn sie Gott nicht giebt? »Standhaft dulden und — schweigen; keinen Fuß breit von seiner Pflicht abweichen, Gott um Unterwerfung, um Aendrung seines Schicksaals anflehen und gelassen dieselbe erwarten — Das lehrt die Religion bei schwerem Kreuz.«

Gut! aber wollen Sie noch einige meiner Zweifel anhoͤren, die selbst die Erfahrung und der Begriff von Gott und seinen Eigenschaften zu bestaͤtigen scheinen?

Dulden. Thut Gott jetzt noch Wunder? und waͤr es nicht Wunder, wenn das rasche, feurige Temperament auf einmal bis zu einer gewissen Traͤgheit, ohne vorhergegangne andere Umstaͤnde,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0035" n="33"/><lb/>
von Gott zu erringen <choice><corr>glaubst</corr><sic>glaubt</sic></choice>, <hi rendition="#b">dem                      Ganzen nicht hindert.</hi> &#x2014; Bis denn endlich der Lauf der Dinge es zula&#x0364;ßt,                   daß durch Aufopferung vieler Tausende, <hi rendition="#b">dein</hi> Gebet erho&#x0364;ret                   werden kann. Unglu&#x0364;cklicher Vorzug! auf die Glu&#x0364;ckstru&#x0364;mmer meiner Bru&#x0364;der, mein                   eignes zu gru&#x0364;nden! &#x2014; Mein Herz kann sich unmo&#x0364;glich mit diesem Gedanken vertragen.                   Womit hatte es denn die Unglu&#x0364;ckliche verschuldet, daß ihr dieses schwere Kreuz                   aufgelegt wurde? Ein Kreuz, daß nicht ertra&#x0364;glich gemacht werden konnte, als durch                   Verbrechen. &#x2014; So durchkreuzen sich die Schicksaale der Menschen: die Su&#x0364;nden des                   Einen, ziehn Su&#x0364;nden des Andern nach sich. Auf wem liegt nun die Schuld, und wer                   soll sie tragen? Wo soll die Kraft herkommen, wenn sie Gott nicht giebt?                   »Standhaft dulden und &#x2014; schweigen; keinen Fuß breit von seiner Pflicht abweichen,                   Gott um Unterwerfung, um Aendrung seines Schicksaals anflehen und gelassen                   dieselbe erwarten &#x2014; Das lehrt die Religion bei schwerem Kreuz.«</p>
            <p>Gut! aber wollen Sie noch einige meiner Zweifel anho&#x0364;ren, die selbst die Erfahrung                   und der Begriff von Gott und seinen Eigenschaften zu besta&#x0364;tigen scheinen?</p>
            <p><hi rendition="#b">Dulden.</hi> Thut Gott jetzt noch Wunder? und wa&#x0364;r es nicht                   Wunder, wenn das rasche, feurige Temperament auf einmal bis zu einer gewissen                   Tra&#x0364;gheit, ohne vorhergegangne andere Umsta&#x0364;nde,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[33/0035] von Gott zu erringen glaubst, dem Ganzen nicht hindert. — Bis denn endlich der Lauf der Dinge es zulaͤßt, daß durch Aufopferung vieler Tausende, dein Gebet erhoͤret werden kann. Ungluͤcklicher Vorzug! auf die Gluͤckstruͤmmer meiner Bruͤder, mein eignes zu gruͤnden! — Mein Herz kann sich unmoͤglich mit diesem Gedanken vertragen. Womit hatte es denn die Ungluͤckliche verschuldet, daß ihr dieses schwere Kreuz aufgelegt wurde? Ein Kreuz, daß nicht ertraͤglich gemacht werden konnte, als durch Verbrechen. — So durchkreuzen sich die Schicksaale der Menschen: die Suͤnden des Einen, ziehn Suͤnden des Andern nach sich. Auf wem liegt nun die Schuld, und wer soll sie tragen? Wo soll die Kraft herkommen, wenn sie Gott nicht giebt? »Standhaft dulden und — schweigen; keinen Fuß breit von seiner Pflicht abweichen, Gott um Unterwerfung, um Aendrung seines Schicksaals anflehen und gelassen dieselbe erwarten — Das lehrt die Religion bei schwerem Kreuz.« Gut! aber wollen Sie noch einige meiner Zweifel anhoͤren, die selbst die Erfahrung und der Begriff von Gott und seinen Eigenschaften zu bestaͤtigen scheinen? Dulden. Thut Gott jetzt noch Wunder? und waͤr es nicht Wunder, wenn das rasche, feurige Temperament auf einmal bis zu einer gewissen Traͤgheit, ohne vorhergegangne andere Umstaͤnde,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0301_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0301_1785/35
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0301_1785/35>, abgerufen am 22.11.2024.