Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785.
Aber diese neue Wendung meiner Fähigkeiten hat mich auch wieder auf Abwege geleitet. Jch kann mich von dem Zweifel nicht befreien: daß den Menschen so viel sollte zugerechnet werden können, als man gewöhnlich glaubt. Wie vieles hängt nicht von seiner Erziehung, Umgang und andern zufälligen Dingen ab, wofür er gar nicht kann. Die Worte Christi: Richtet nicht! scheinen überhaupt die Unzulänglichkeit menschlicher Urtheile, und selbst eine äußerst billige Beurtheilung Gottes anzudeuten. -- Mich kränkts, wenn Menschen sich mit frecher Stirn hinstellen, und über menschliche Handlungen urtheilen, ohne das Ganze ihres Lebens, und seiner einzelnen Theile überschaut zu haben. Und manche Handlung, die in spätern Jahren geschieht, hat ihren Grund oft in der vorbereitenden Bildung, in dem Umgange mit diesem und jenem; ist also oft Folge, nothwendige Folge. -- Daher kommts, daß Menschenkenner auch meistens billig und gelinde urtheilen. Ja selbst auf mich hat mein bischen Lektüre dieser Art ähnliche Wirkung gehabt. Gutes und böses Herz werden wohl angeboren, ob ich gleich nicht läugne, daß auch Erziehung seinen grossen Theil daran hat. Und wer theilte die-
Aber diese neue Wendung meiner Faͤhigkeiten hat mich auch wieder auf Abwege geleitet. Jch kann mich von dem Zweifel nicht befreien: daß den Menschen so viel sollte zugerechnet werden koͤnnen, als man gewoͤhnlich glaubt. Wie vieles haͤngt nicht von seiner Erziehung, Umgang und andern zufaͤlligen Dingen ab, wofuͤr er gar nicht kann. Die Worte Christi: Richtet nicht! scheinen uͤberhaupt die Unzulaͤnglichkeit menschlicher Urtheile, und selbst eine aͤußerst billige Beurtheilung Gottes anzudeuten. — Mich kraͤnkts, wenn Menschen sich mit frecher Stirn hinstellen, und uͤber menschliche Handlungen urtheilen, ohne das Ganze ihres Lebens, und seiner einzelnen Theile uͤberschaut zu haben. Und manche Handlung, die in spaͤtern Jahren geschieht, hat ihren Grund oft in der vorbereitenden Bildung, in dem Umgange mit diesem und jenem; ist also oft Folge, nothwendige Folge. — Daher kommts, daß Menschenkenner auch meistens billig und gelinde urtheilen. Ja selbst auf mich hat mein bischen Lektuͤre dieser Art aͤhnliche Wirkung gehabt. Gutes und boͤses Herz werden wohl angeboren, ob ich gleich nicht laͤugne, daß auch Erziehung seinen grossen Theil daran hat. Und wer theilte die- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0013" n="11"/><lb/> ten mich zum Beobachten unfaͤhig. — Zudem hatte ich nicht Selbstuͤberwindung genug; vielleicht fehlte es mir auch noch an Wahrheitsliebe — und so blieb es wieder liegen.</p> <p>Aber diese neue Wendung meiner Faͤhigkeiten hat mich auch wieder auf Abwege geleitet. Jch kann mich von dem Zweifel nicht befreien: daß den Menschen so viel sollte zugerechnet werden koͤnnen, als man gewoͤhnlich glaubt. Wie vieles haͤngt nicht von seiner Erziehung, Umgang und andern zufaͤlligen Dingen ab, wofuͤr er gar nicht kann. Die Worte Christi: Richtet nicht! scheinen uͤberhaupt die Unzulaͤnglichkeit menschlicher Urtheile, und selbst eine aͤußerst billige Beurtheilung Gottes anzudeuten. — Mich kraͤnkts, wenn Menschen sich mit frecher Stirn hinstellen, und uͤber menschliche Handlungen urtheilen, ohne das Ganze ihres Lebens, und seiner einzelnen Theile uͤberschaut zu haben. Und manche Handlung, die in spaͤtern Jahren geschieht, hat ihren Grund oft in der vorbereitenden Bildung, in dem Umgange mit diesem und jenem; ist also oft Folge, nothwendige Folge. — Daher kommts, daß Menschenkenner auch meistens billig und gelinde urtheilen. Ja selbst auf mich hat mein bischen Lektuͤre dieser Art aͤhnliche Wirkung gehabt.</p> <p>Gutes und boͤses Herz werden wohl angeboren, ob ich gleich nicht laͤugne, daß auch Erziehung seinen grossen Theil daran hat. Und wer theilte die-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [11/0013]
ten mich zum Beobachten unfaͤhig. — Zudem hatte ich nicht Selbstuͤberwindung genug; vielleicht fehlte es mir auch noch an Wahrheitsliebe — und so blieb es wieder liegen.
Aber diese neue Wendung meiner Faͤhigkeiten hat mich auch wieder auf Abwege geleitet. Jch kann mich von dem Zweifel nicht befreien: daß den Menschen so viel sollte zugerechnet werden koͤnnen, als man gewoͤhnlich glaubt. Wie vieles haͤngt nicht von seiner Erziehung, Umgang und andern zufaͤlligen Dingen ab, wofuͤr er gar nicht kann. Die Worte Christi: Richtet nicht! scheinen uͤberhaupt die Unzulaͤnglichkeit menschlicher Urtheile, und selbst eine aͤußerst billige Beurtheilung Gottes anzudeuten. — Mich kraͤnkts, wenn Menschen sich mit frecher Stirn hinstellen, und uͤber menschliche Handlungen urtheilen, ohne das Ganze ihres Lebens, und seiner einzelnen Theile uͤberschaut zu haben. Und manche Handlung, die in spaͤtern Jahren geschieht, hat ihren Grund oft in der vorbereitenden Bildung, in dem Umgange mit diesem und jenem; ist also oft Folge, nothwendige Folge. — Daher kommts, daß Menschenkenner auch meistens billig und gelinde urtheilen. Ja selbst auf mich hat mein bischen Lektuͤre dieser Art aͤhnliche Wirkung gehabt.
Gutes und boͤses Herz werden wohl angeboren, ob ich gleich nicht laͤugne, daß auch Erziehung seinen grossen Theil daran hat. Und wer theilte die-
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(2015-06-09T11:00:00Z)
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Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat
(2015-06-09T11:00:00Z)
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