Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784.
N***, der sehr scharfsichtig ist, entdeckte bald die Harmonie unsrer Herzen. Auch er wurde eifersüchtig; seine häufigen spöttischen Anspielungen gaben mirs zu verstehen. Seine Neigung brach bald aus -- bei mir versteckte sich eben derselbe Trieb unter Empfindsamkeit, Scheintugend und Reformirsucht. Alle diese Dinge legten mir einen gewissen Zwang auf. N*** hatte zwar auch im Anfange mit in denselben Ton gestimmt; allein nicht aus kalter Ueberlegung -- es war bloß Ueberraschung und um nicht schlechter zu scheinen als ich; die Folge bewieß dieß. Eines Tages, da ich sie wegen nöthiger Beschäftigungen nicht besuchen konnte, und N*** dieses wußte, so hatte er die
N***, der sehr scharfsichtig ist, entdeckte bald die Harmonie unsrer Herzen. Auch er wurde eifersuͤchtig; seine haͤufigen spoͤttischen Anspielungen gaben mirs zu verstehen. Seine Neigung brach bald aus ― bei mir versteckte sich eben derselbe Trieb unter Empfindsamkeit, Scheintugend und Reformirsucht. Alle diese Dinge legten mir einen gewissen Zwang auf. N*** hatte zwar auch im Anfange mit in denselben Ton gestimmt; allein nicht aus kalter Ueberlegung ― es war bloß Ueberraschung und um nicht schlechter zu scheinen als ich; die Folge bewieß dieß. Eines Tages, da ich sie wegen noͤthiger Beschaͤftigungen nicht besuchen konnte, und N*** dieses wußte, so hatte er die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0066" n="66"/><lb/> aus der Geschichte der wuͤrklichen Welt. Jch wurde nun mit ganzer Seele empfindsam. Meine ungluͤcklichen Verhaͤltnisse schienen mir ein Recht zu geben, auf die Verhaͤltnisse der Welt zu schimpfen. Jch ahmte den Helden meiner Romane nach. Jch wollte mich in meine Tugend huͤllen, und ― doch meine Geliebte sollte aͤhnliche Grundsaͤtze mit mir hegen. Jch fing an zu reformiren, entdeckte ihr ihre Fehler, empfahl ihr die Tugend und mein ― Beispiel. ― Berichtigte ihre Religionskenntnisse, schrieb Briefe uͤber Briefe, die voll von Moral, von Beßrung des Herzens und der zukuͤnftigen Welt waren, und in waͤhrender Zeit, da meine Hand das alles aufs Papier niederschrieb, fuͤhlte ich, daß mein Herz ― mir oft widersprach. ― </p> <p>N***, der sehr scharfsichtig ist, entdeckte bald die Harmonie unsrer Herzen. Auch er wurde eifersuͤchtig; seine haͤufigen spoͤttischen Anspielungen gaben mirs zu verstehen. Seine Neigung brach bald aus ― bei mir versteckte sich eben derselbe Trieb unter Empfindsamkeit, Scheintugend und Reformirsucht. Alle diese Dinge legten mir einen gewissen Zwang auf. N*** hatte zwar auch im Anfange mit in denselben Ton gestimmt; allein nicht aus kalter Ueberlegung ― es war bloß Ueberraschung und um nicht schlechter zu scheinen als ich; die Folge bewieß dieß. Eines Tages, da ich sie wegen noͤthiger Beschaͤftigungen nicht besuchen konnte, und N*** dieses wußte, so hatte er die<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [66/0066]
aus der Geschichte der wuͤrklichen Welt. Jch wurde nun mit ganzer Seele empfindsam. Meine ungluͤcklichen Verhaͤltnisse schienen mir ein Recht zu geben, auf die Verhaͤltnisse der Welt zu schimpfen. Jch ahmte den Helden meiner Romane nach. Jch wollte mich in meine Tugend huͤllen, und ― doch meine Geliebte sollte aͤhnliche Grundsaͤtze mit mir hegen. Jch fing an zu reformiren, entdeckte ihr ihre Fehler, empfahl ihr die Tugend und mein ― Beispiel. ― Berichtigte ihre Religionskenntnisse, schrieb Briefe uͤber Briefe, die voll von Moral, von Beßrung des Herzens und der zukuͤnftigen Welt waren, und in waͤhrender Zeit, da meine Hand das alles aufs Papier niederschrieb, fuͤhlte ich, daß mein Herz ― mir oft widersprach. ―
N***, der sehr scharfsichtig ist, entdeckte bald die Harmonie unsrer Herzen. Auch er wurde eifersuͤchtig; seine haͤufigen spoͤttischen Anspielungen gaben mirs zu verstehen. Seine Neigung brach bald aus ― bei mir versteckte sich eben derselbe Trieb unter Empfindsamkeit, Scheintugend und Reformirsucht. Alle diese Dinge legten mir einen gewissen Zwang auf. N*** hatte zwar auch im Anfange mit in denselben Ton gestimmt; allein nicht aus kalter Ueberlegung ― es war bloß Ueberraschung und um nicht schlechter zu scheinen als ich; die Folge bewieß dieß. Eines Tages, da ich sie wegen noͤthiger Beschaͤftigungen nicht besuchen konnte, und N*** dieses wußte, so hatte er die
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784/66>, abgerufen am 16.02.2025. |