Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784.
Die Liebe verursachte jetzt eine ganz besondre Aenderung meines Charakters. Jch war sonst nie sehr fürs Empfindsame gewesen, ob ich gleich deswegen nicht gleichgültig war. Empfindsame Schriften waren mir immer in gewisser Absicht eckelhaft. Denn ich fands in der wirklichen Welt nicht so. Allein, sobald ich verliebt war, bekam ich Geschmack daran, und meine Einbildungskraft wußte bald das Unwahrscheinliche hinwegzuzaubern. Vorher prüfte mein Verstand -- jetzt meine Phantasie. Schienen mir sonst dergleichen Begebenheiten romantisch; so hatte ich jetzt schon eine eigne solche Erfahrung und diese -- diente mir als ein Beitrag
Die Liebe verursachte jetzt eine ganz besondre Aenderung meines Charakters. Jch war sonst nie sehr fuͤrs Empfindsame gewesen, ob ich gleich deswegen nicht gleichguͤltig war. Empfindsame Schriften waren mir immer in gewisser Absicht eckelhaft. Denn ich fands in der wirklichen Welt nicht so. Allein, sobald ich verliebt war, bekam ich Geschmack daran, und meine Einbildungskraft wußte bald das Unwahrscheinliche hinwegzuzaubern. Vorher pruͤfte mein Verstand ― jetzt meine Phantasie. Schienen mir sonst dergleichen Begebenheiten romantisch; so hatte ich jetzt schon eine eigne solche Erfahrung und diese ― diente mir als ein Beitrag <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0065" n="65"/><lb/> fuͤhlte, wenn ihn ein Mensch von N**s Charakter vorgezogen werden sollte. Es mochte auch eine vormalige unangenehme Empfindung, die mir sein schlechtes Betragen ehemals gegen mich verursachet hatte, wieder in ihrer ganzen Staͤrke erwachen, daraus konnte wohl eine gewisse Mißgunst fließen, die ihm das nicht goͤnnte, was ich eigentlich zu besitzen wuͤnschte; dazu mochte auch wohl ein kleiner Trieb, sich raͤchen zu koͤnnen, gekommen seyn, wozu ich um so mehr Recht zu haben glaubte, weil ich ihm einen großen Theil meines Ungluͤcks zu danken hatte. Nie hatte sich die Begierde zu raͤchen, staͤrker bei mir geregt, und nie ist sie anhaltender gewesen. Jch habe das in der Folge, nachdem ich mich gewoͤhnte, oft uͤber mich nachzudenken, deutlich bemerkt. </p> <p>Die Liebe verursachte jetzt eine ganz besondre Aenderung meines Charakters. Jch war sonst nie sehr fuͤrs Empfindsame gewesen, ob ich gleich deswegen nicht gleichguͤltig war. Empfindsame Schriften waren mir immer in gewisser Absicht eckelhaft. Denn ich fands in der wirklichen Welt nicht so. Allein, sobald ich verliebt war, bekam ich Geschmack daran, und meine Einbildungskraft wußte bald das Unwahrscheinliche hinwegzuzaubern. Vorher pruͤfte mein Verstand ― jetzt meine Phantasie. Schienen mir sonst dergleichen Begebenheiten romantisch; so hatte ich jetzt schon eine eigne solche Erfahrung und diese ― diente mir als ein Beitrag<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [65/0065]
fuͤhlte, wenn ihn ein Mensch von N**s Charakter vorgezogen werden sollte. Es mochte auch eine vormalige unangenehme Empfindung, die mir sein schlechtes Betragen ehemals gegen mich verursachet hatte, wieder in ihrer ganzen Staͤrke erwachen, daraus konnte wohl eine gewisse Mißgunst fließen, die ihm das nicht goͤnnte, was ich eigentlich zu besitzen wuͤnschte; dazu mochte auch wohl ein kleiner Trieb, sich raͤchen zu koͤnnen, gekommen seyn, wozu ich um so mehr Recht zu haben glaubte, weil ich ihm einen großen Theil meines Ungluͤcks zu danken hatte. Nie hatte sich die Begierde zu raͤchen, staͤrker bei mir geregt, und nie ist sie anhaltender gewesen. Jch habe das in der Folge, nachdem ich mich gewoͤhnte, oft uͤber mich nachzudenken, deutlich bemerkt.
Die Liebe verursachte jetzt eine ganz besondre Aenderung meines Charakters. Jch war sonst nie sehr fuͤrs Empfindsame gewesen, ob ich gleich deswegen nicht gleichguͤltig war. Empfindsame Schriften waren mir immer in gewisser Absicht eckelhaft. Denn ich fands in der wirklichen Welt nicht so. Allein, sobald ich verliebt war, bekam ich Geschmack daran, und meine Einbildungskraft wußte bald das Unwahrscheinliche hinwegzuzaubern. Vorher pruͤfte mein Verstand ― jetzt meine Phantasie. Schienen mir sonst dergleichen Begebenheiten romantisch; so hatte ich jetzt schon eine eigne solche Erfahrung und diese ― diente mir als ein Beitrag
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784/65 |
Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784/65>, abgerufen am 05.07.2024. |