Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784.
Endlich sahe sich meine nun angefachte Wißbegierde nach mehrern Gegenständen um. Jch hatte durch das Collegien-Schreiben manches behalten, manches durchdacht; es waren in denselben viel theologische Bücher citirt, auf die ich aufmerksam gemacht wurde. Hier und da erwischte ich denn manches, allein ich las sie mit mehr Schaden als Nutzen. Weil mir zu viel Vorerkenntnisse fehlten, und ich daher das Ganze nicht überschauen konnte, so konnte es nicht fehlen: ich mußte irren und in mancherlei Zweifel verfallen; zum Unglück mußten immer meine Zweifel auf gewisse moralische Wahrheiten Einfluß haben, deren Gewißheit dadurch erschüttert wurde, und da ich von Natur leichtsinnig bin, so hatte es für meine Sitten die schlimmsten Folgen. Mein Herz war damals weder gut noch böse. Oft regten sich zwar in mir gewisse Triebe, allein,
Endlich sahe sich meine nun angefachte Wißbegierde nach mehrern Gegenstaͤnden um. Jch hatte durch das Collegien-Schreiben manches behalten, manches durchdacht; es waren in denselben viel theologische Buͤcher citirt, auf die ich aufmerksam gemacht wurde. Hier und da erwischte ich denn manches, allein ich las sie mit mehr Schaden als Nutzen. Weil mir zu viel Vorerkenntnisse fehlten, und ich daher das Ganze nicht uͤberschauen konnte, so konnte es nicht fehlen: ich mußte irren und in mancherlei Zweifel verfallen; zum Ungluͤck mußten immer meine Zweifel auf gewisse moralische Wahrheiten Einfluß haben, deren Gewißheit dadurch erschuͤttert wurde, und da ich von Natur leichtsinnig bin, so hatte es fuͤr meine Sitten die schlimmsten Folgen. Mein Herz war damals weder gut noch boͤse. Oft regten sich zwar in mir gewisse Triebe, allein, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0058" n="58"/><lb/> her mochte die Schreibart so elend sein als sie wollte, jetzt fing sie mir an zum Eckel zu werden. Jch verlangte nun Schoͤnheit im Ausdruck, ob ich gleich mir keine Rechenschaft geben konnte: warum mir etwas gefiel oder nicht gefiel? ― Da ich aber keinen Wegweiser mehr hatte, so verfiel ich aufs Schwuͤlstige, Erhabene. Daran hatte ich lange Geschmack, und meine Briefe, die ich an meinen Freund schrieb, sind die redenden Beweise davon: denn sie sind voll von entlehnten hohen und erhabnen Phrasen, die oft der Sache gar nicht angemessen waren. </p> <p>Endlich sahe sich meine nun angefachte Wißbegierde nach mehrern Gegenstaͤnden um. Jch hatte durch das Collegien-Schreiben manches behalten, manches durchdacht; es waren in denselben viel theologische Buͤcher citirt, auf die ich aufmerksam gemacht wurde. Hier und da erwischte ich denn manches, allein ich las sie mit mehr Schaden als Nutzen. Weil mir zu viel Vorerkenntnisse fehlten, und ich daher das Ganze nicht uͤberschauen konnte, so konnte es nicht fehlen: ich mußte irren und in mancherlei Zweifel verfallen; zum Ungluͤck mußten immer meine Zweifel auf gewisse moralische Wahrheiten Einfluß haben, deren Gewißheit dadurch erschuͤttert wurde, und da ich von Natur leichtsinnig bin, so hatte es fuͤr meine Sitten die schlimmsten Folgen. </p> <p>Mein Herz war damals weder gut noch boͤse. Oft regten sich zwar in mir gewisse Triebe, allein,<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [58/0058]
her mochte die Schreibart so elend sein als sie wollte, jetzt fing sie mir an zum Eckel zu werden. Jch verlangte nun Schoͤnheit im Ausdruck, ob ich gleich mir keine Rechenschaft geben konnte: warum mir etwas gefiel oder nicht gefiel? ― Da ich aber keinen Wegweiser mehr hatte, so verfiel ich aufs Schwuͤlstige, Erhabene. Daran hatte ich lange Geschmack, und meine Briefe, die ich an meinen Freund schrieb, sind die redenden Beweise davon: denn sie sind voll von entlehnten hohen und erhabnen Phrasen, die oft der Sache gar nicht angemessen waren.
Endlich sahe sich meine nun angefachte Wißbegierde nach mehrern Gegenstaͤnden um. Jch hatte durch das Collegien-Schreiben manches behalten, manches durchdacht; es waren in denselben viel theologische Buͤcher citirt, auf die ich aufmerksam gemacht wurde. Hier und da erwischte ich denn manches, allein ich las sie mit mehr Schaden als Nutzen. Weil mir zu viel Vorerkenntnisse fehlten, und ich daher das Ganze nicht uͤberschauen konnte, so konnte es nicht fehlen: ich mußte irren und in mancherlei Zweifel verfallen; zum Ungluͤck mußten immer meine Zweifel auf gewisse moralische Wahrheiten Einfluß haben, deren Gewißheit dadurch erschuͤttert wurde, und da ich von Natur leichtsinnig bin, so hatte es fuͤr meine Sitten die schlimmsten Folgen.
Mein Herz war damals weder gut noch boͤse. Oft regten sich zwar in mir gewisse Triebe, allein,
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784/58>, abgerufen am 05.07.2024. |