Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784.
Wenn sie mich nach einiger Zeit endlich bemerkte, fuhr sie wüthend auf mich los, und man mußte alle Vorsicht anwenden, sie zu sich selbst zu bringen. Waren diese Paroxismen vorbei, so sagte sie ganz ermattet: ach ich sterbe, ich sterbe -- dann wurd sie ganz still, legte sich aufs Bett und bekam ihr gewöhnliches Fieber -- dann schlief sie gewöhnlich ein. Bei ruhigen Stunden sprach sie gern von geistlichen Dingen, und hörte gern Schwärmereien von der Ewigkeit erzählen. Oft war sie eigensinnig und schalt die Mägde, aber nach einer Viertelstunde bereuete sie es bitter, weinte über sich selbst und schilderte ihr Unglück auf das rührendste. Endlich wurde ihr Fieber immer stärker, und ihr Zustand kam mir sehr gefährlich vor. Jedoch gab es Tage, wo sie denen, die um sie waren, stark vorkam. Am letzten Sonntag war ihr Mann in der Kirche -- sie schickte die Magd weg, und wollte die Küche selbst besorgen. Das Weitere wissen Sie. Man fand auf ihrem Arbeitstische verschiedne Zettelchen, worauf sie einigemal geschrieben hatte: Adieu, adieu; ich sterbe seelig, ich verzeih Euch allen. -- Sehn Sie, liebster Freund, so ist meine schreckliche Lage! -- Jch sehe hieraus, daß ihre Phantasie immer schwärmerischer geworden.
Wenn sie mich nach einiger Zeit endlich bemerkte, fuhr sie wuͤthend auf mich los, und man mußte alle Vorsicht anwenden, sie zu sich selbst zu bringen. Waren diese Paroxismen vorbei, so sagte sie ganz ermattet: ach ich sterbe, ich sterbe ― dann wurd sie ganz still, legte sich aufs Bett und bekam ihr gewoͤhnliches Fieber ― dann schlief sie gewoͤhnlich ein. Bei ruhigen Stunden sprach sie gern von geistlichen Dingen, und hoͤrte gern Schwaͤrmereien von der Ewigkeit erzaͤhlen. Oft war sie eigensinnig und schalt die Maͤgde, aber nach einer Viertelstunde bereuete sie es bitter, weinte uͤber sich selbst und schilderte ihr Ungluͤck auf das ruͤhrendste. Endlich wurde ihr Fieber immer staͤrker, und ihr Zustand kam mir sehr gefaͤhrlich vor. Jedoch gab es Tage, wo sie denen, die um sie waren, stark vorkam. Am letzten Sonntag war ihr Mann in der Kirche ― sie schickte die Magd weg, und wollte die Kuͤche selbst besorgen. Das Weitere wissen Sie. Man fand auf ihrem Arbeitstische verschiedne Zettelchen, worauf sie einigemal geschrieben hatte: Adieu, adieu; ich sterbe seelig, ich verzeih Euch allen. ― Sehn Sie, liebster Freund, so ist meine schreckliche Lage! ― Jch sehe hieraus, daß ihre Phantasie immer schwaͤrmerischer geworden. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0034" n="34"/><lb/> her, daß sie zwar unangenehme Empfindungen gehabt, aber ohne zu wissen, woher? </p> <p>Wenn sie mich nach einiger Zeit endlich bemerkte, fuhr sie wuͤthend auf mich los, und man mußte alle Vorsicht anwenden, sie zu sich selbst zu bringen. Waren diese Paroxismen vorbei, so sagte sie ganz ermattet: ach ich sterbe, ich sterbe ― dann wurd sie ganz still, legte sich aufs Bett und bekam ihr gewoͤhnliches Fieber ― dann schlief sie gewoͤhnlich ein. Bei ruhigen Stunden sprach sie gern von geistlichen Dingen, und hoͤrte gern Schwaͤrmereien von der Ewigkeit erzaͤhlen. </p> <p>Oft war sie eigensinnig und schalt die Maͤgde, aber nach einer Viertelstunde bereuete sie es bitter, weinte uͤber sich selbst und schilderte ihr Ungluͤck auf das ruͤhrendste. </p> <p>Endlich wurde ihr Fieber immer staͤrker, und ihr Zustand kam mir sehr gefaͤhrlich vor. Jedoch gab es Tage, wo sie denen, die um sie waren, stark vorkam. Am letzten Sonntag war ihr Mann in der Kirche ― sie schickte die Magd weg, und wollte die Kuͤche selbst besorgen. Das Weitere wissen Sie. </p> <p>Man fand auf ihrem Arbeitstische verschiedne Zettelchen, worauf sie einigemal geschrieben hatte: Adieu, adieu; ich sterbe seelig, ich verzeih Euch allen. ― Sehn Sie, liebster Freund, so ist meine schreckliche Lage! ― Jch sehe hieraus, daß ihre Phantasie immer schwaͤrmerischer geworden. </p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [34/0034]
her, daß sie zwar unangenehme Empfindungen gehabt, aber ohne zu wissen, woher?
Wenn sie mich nach einiger Zeit endlich bemerkte, fuhr sie wuͤthend auf mich los, und man mußte alle Vorsicht anwenden, sie zu sich selbst zu bringen. Waren diese Paroxismen vorbei, so sagte sie ganz ermattet: ach ich sterbe, ich sterbe ― dann wurd sie ganz still, legte sich aufs Bett und bekam ihr gewoͤhnliches Fieber ― dann schlief sie gewoͤhnlich ein. Bei ruhigen Stunden sprach sie gern von geistlichen Dingen, und hoͤrte gern Schwaͤrmereien von der Ewigkeit erzaͤhlen.
Oft war sie eigensinnig und schalt die Maͤgde, aber nach einer Viertelstunde bereuete sie es bitter, weinte uͤber sich selbst und schilderte ihr Ungluͤck auf das ruͤhrendste.
Endlich wurde ihr Fieber immer staͤrker, und ihr Zustand kam mir sehr gefaͤhrlich vor. Jedoch gab es Tage, wo sie denen, die um sie waren, stark vorkam. Am letzten Sonntag war ihr Mann in der Kirche ― sie schickte die Magd weg, und wollte die Kuͤche selbst besorgen. Das Weitere wissen Sie.
Man fand auf ihrem Arbeitstische verschiedne Zettelchen, worauf sie einigemal geschrieben hatte: Adieu, adieu; ich sterbe seelig, ich verzeih Euch allen. ― Sehn Sie, liebster Freund, so ist meine schreckliche Lage! ― Jch sehe hieraus, daß ihre Phantasie immer schwaͤrmerischer geworden.
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784/34>, abgerufen am 05.07.2024. |