Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784.
Der Doktor F., ihr erster Arzt, hielt dieß für Vorboten der Schwindsucht -- ließ ihr alle vier Wochen zur Ader, und brauchte lindernde Mittel für ihre Brust. Durchs Aderlaßen wurde sie immer schwächer, und man mußte nachlassen. Professor V., ihr zweiter Arzt, fand sie schon in der größten Nervenschwäche, er ließ sie Baden und verordnete andre dienliche Mittel. Bei dem Baden fand sich ein starker Speichelfluß, und sie befand sich nach jedem Bad allemal besser als vorher. Jedoch spürte man noch keine sonderliche Besserung. Als ich sie vor einem Vierteljahre kennen lernte, war es schon sehr weit mit ihr gekommen. Bei jeder etwas starken Bewegung bekam sie Ohnmachten. Töne, die nur mittelmäßig stark ausgesprochen wurden, verursachten Verzuckungen und fuhren bis in die Fingerspitzen, und bei einem Konzert war ihr nicht anders, als ob ihr Körper an allen Theilen auf einmal elektrisirt wurde; sie mußte laufen, so weit sie konnte. Oft weinte sie über die geringste Kleinigkeit, oder auch über nichts -- sprach oft für sich -- und betete zu Gott um ihren Tod. Man konnte in ihre Stube kommen, um sie herumgehen und etwas wegnehmen, ohne von ihr bemerkt zu werden, und wenn man Geräusch machte, so gestand sie nach-
Der Doktor F., ihr erster Arzt, hielt dieß fuͤr Vorboten der Schwindsucht ― ließ ihr alle vier Wochen zur Ader, und brauchte lindernde Mittel fuͤr ihre Brust. Durchs Aderlaßen wurde sie immer schwaͤcher, und man mußte nachlassen. Professor V., ihr zweiter Arzt, fand sie schon in der groͤßten Nervenschwaͤche, er ließ sie Baden und verordnete andre dienliche Mittel. Bei dem Baden fand sich ein starker Speichelfluß, und sie befand sich nach jedem Bad allemal besser als vorher. Jedoch spuͤrte man noch keine sonderliche Besserung. Als ich sie vor einem Vierteljahre kennen lernte, war es schon sehr weit mit ihr gekommen. Bei jeder etwas starken Bewegung bekam sie Ohnmachten. Toͤne, die nur mittelmaͤßig stark ausgesprochen wurden, verursachten Verzuckungen und fuhren bis in die Fingerspitzen, und bei einem Konzert war ihr nicht anders, als ob ihr Koͤrper an allen Theilen auf einmal elektrisirt wurde; sie mußte laufen, so weit sie konnte. Oft weinte sie uͤber die geringste Kleinigkeit, oder auch uͤber nichts ― sprach oft fuͤr sich ― und betete zu Gott um ihren Tod. Man konnte in ihre Stube kommen, um sie herumgehen und etwas wegnehmen, ohne von ihr bemerkt zu werden, und wenn man Geraͤusch machte, so gestand sie nach- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0033" n="33"/><lb/> habt. Beim Anfang ihrer Ehe bekam sie Reißen in Fuͤßen und Schultern, und ein Spannen und Stechen auf der Brust. </p> <p>Der Doktor F., ihr erster Arzt, hielt dieß fuͤr Vorboten der Schwindsucht ― ließ ihr alle vier Wochen zur Ader, und brauchte lindernde Mittel fuͤr ihre Brust. Durchs Aderlaßen wurde sie immer schwaͤcher, und man mußte nachlassen. </p> <p>Professor V., ihr zweiter Arzt, fand sie schon in der groͤßten Nervenschwaͤche, er ließ sie Baden und verordnete andre dienliche Mittel. Bei dem Baden fand sich ein starker Speichelfluß, und sie befand sich nach jedem Bad allemal besser als vorher. </p> <p>Jedoch spuͤrte man noch keine sonderliche Besserung. Als ich sie vor einem Vierteljahre kennen lernte, war es schon sehr weit mit ihr gekommen. Bei jeder etwas starken Bewegung bekam sie Ohnmachten. Toͤne, die nur mittelmaͤßig stark ausgesprochen wurden, verursachten Verzuckungen und fuhren bis in die Fingerspitzen, und bei einem Konzert war ihr nicht anders, als ob ihr Koͤrper an allen Theilen auf einmal elektrisirt wurde; sie mußte laufen, so weit sie konnte. </p> <p>Oft weinte sie uͤber die geringste Kleinigkeit, oder auch uͤber nichts ― sprach oft fuͤr sich ― und betete zu Gott um ihren Tod. Man konnte in ihre Stube kommen, um sie herumgehen und etwas wegnehmen, ohne von ihr bemerkt zu werden, und wenn man Geraͤusch machte, so gestand sie nach-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [33/0033]
habt. Beim Anfang ihrer Ehe bekam sie Reißen in Fuͤßen und Schultern, und ein Spannen und Stechen auf der Brust.
Der Doktor F., ihr erster Arzt, hielt dieß fuͤr Vorboten der Schwindsucht ― ließ ihr alle vier Wochen zur Ader, und brauchte lindernde Mittel fuͤr ihre Brust. Durchs Aderlaßen wurde sie immer schwaͤcher, und man mußte nachlassen.
Professor V., ihr zweiter Arzt, fand sie schon in der groͤßten Nervenschwaͤche, er ließ sie Baden und verordnete andre dienliche Mittel. Bei dem Baden fand sich ein starker Speichelfluß, und sie befand sich nach jedem Bad allemal besser als vorher.
Jedoch spuͤrte man noch keine sonderliche Besserung. Als ich sie vor einem Vierteljahre kennen lernte, war es schon sehr weit mit ihr gekommen. Bei jeder etwas starken Bewegung bekam sie Ohnmachten. Toͤne, die nur mittelmaͤßig stark ausgesprochen wurden, verursachten Verzuckungen und fuhren bis in die Fingerspitzen, und bei einem Konzert war ihr nicht anders, als ob ihr Koͤrper an allen Theilen auf einmal elektrisirt wurde; sie mußte laufen, so weit sie konnte.
Oft weinte sie uͤber die geringste Kleinigkeit, oder auch uͤber nichts ― sprach oft fuͤr sich ― und betete zu Gott um ihren Tod. Man konnte in ihre Stube kommen, um sie herumgehen und etwas wegnehmen, ohne von ihr bemerkt zu werden, und wenn man Geraͤusch machte, so gestand sie nach-
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784/33>, abgerufen am 05.07.2024. |