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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 1. Berlin, 1784.

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noch an eben dem Tage Antwort; und er konnte doch, wenn er nicht wahrhaftig verrückt im Kopfe war, schon zum voraus wissen, wie diese ausfallen würde. Diese Minute ließ mich meine Frau herunterrufen, um Ferdinandchens zerschlagenen Arm zu sehen. Mit der bittersten Wehmuth und mit eben so bittern Thränen sahe ich ihn eine Spanne lang wie eine Wurst aufgetrieben, und wie ein dunkelblaues Tuch. Gott! daß ich grade heut in den Umständen bin, ihn noch zwei Nächte unter meinem Dache beherbergen zu müssen!

Aber weiter im Examen. "Warum sind Sie denn so zerschlagen worden?" -- weil ich nicht rennen wollte. -- Geht Jhnen nicht, mein Werther, ein kalter Schauder durch die Glieder? -- und das, sagt mein Sohn, geschieht allemal, so oft wir spatzieren gehen; wenn Ferdinandchen nicht rennen will, dann bekömmt er entsetzliche Schläge. Letzthin, als Sie auch nach seinem zerschabten Gesichte fragten, hat er ihn mitten unter dicke Fichten gestossen, auch, weil er nicht rennen wollte, wir aber mußten auf sein Geheiß sagen: er sei von selbst so gerannt und sei zwischen die Fichten gefallen. Und dies ist nicht allein wirklich geschehen, sondern Herr G. bekräftigte es auch in beider Kinder Gegenwart, welche die Augen dabei niederschlugen.

Und das wäre es alles, meinen Sie? Schicken Sie sich auf noch gräßlichere Dinge, wenn es


noch an eben dem Tage Antwort; und er konnte doch, wenn er nicht wahrhaftig verruͤckt im Kopfe war, schon zum voraus wissen, wie diese ausfallen wuͤrde. Diese Minute ließ mich meine Frau herunterrufen, um Ferdinandchens zerschlagenen Arm zu sehen. Mit der bittersten Wehmuth und mit eben so bittern Thraͤnen sahe ich ihn eine Spanne lang wie eine Wurst aufgetrieben, und wie ein dunkelblaues Tuch. Gott! daß ich grade heut in den Umstaͤnden bin, ihn noch zwei Naͤchte unter meinem Dache beherbergen zu muͤssen!

Aber weiter im Examen. »Warum sind Sie denn so zerschlagen worden?« ― weil ich nicht rennen wollte. ― Geht Jhnen nicht, mein Werther, ein kalter Schauder durch die Glieder? ― und das, sagt mein Sohn, geschieht allemal, so oft wir spatzieren gehen; wenn Ferdinandchen nicht rennen will, dann bekoͤmmt er entsetzliche Schlaͤge. Letzthin, als Sie auch nach seinem zerschabten Gesichte fragten, hat er ihn mitten unter dicke Fichten gestossen, auch, weil er nicht rennen wollte, wir aber mußten auf sein Geheiß sagen: er sei von selbst so gerannt und sei zwischen die Fichten gefallen. Und dies ist nicht allein wirklich geschehen, sondern Herr G. bekraͤftigte es auch in beider Kinder Gegenwart, welche die Augen dabei niederschlugen.

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[31/0033] noch an eben dem Tage Antwort; und er konnte doch, wenn er nicht wahrhaftig verruͤckt im Kopfe war, schon zum voraus wissen, wie diese ausfallen wuͤrde. Diese Minute ließ mich meine Frau herunterrufen, um Ferdinandchens zerschlagenen Arm zu sehen. Mit der bittersten Wehmuth und mit eben so bittern Thraͤnen sahe ich ihn eine Spanne lang wie eine Wurst aufgetrieben, und wie ein dunkelblaues Tuch. Gott! daß ich grade heut in den Umstaͤnden bin, ihn noch zwei Naͤchte unter meinem Dache beherbergen zu muͤssen! Aber weiter im Examen. »Warum sind Sie denn so zerschlagen worden?« ― weil ich nicht rennen wollte. ― Geht Jhnen nicht, mein Werther, ein kalter Schauder durch die Glieder? ― und das, sagt mein Sohn, geschieht allemal, so oft wir spatzieren gehen; wenn Ferdinandchen nicht rennen will, dann bekoͤmmt er entsetzliche Schlaͤge. Letzthin, als Sie auch nach seinem zerschabten Gesichte fragten, hat er ihn mitten unter dicke Fichten gestossen, auch, weil er nicht rennen wollte, wir aber mußten auf sein Geheiß sagen: er sei von selbst so gerannt und sei zwischen die Fichten gefallen. Und dies ist nicht allein wirklich geschehen, sondern Herr G. bekraͤftigte es auch in beider Kinder Gegenwart, welche die Augen dabei niederschlugen. Und das waͤre es alles, meinen Sie? Schicken Sie sich auf noch graͤßlichere Dinge, wenn es

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 1. Berlin, 1784, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0201_1784/33>, abgerufen am 30.04.2024.