Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 3. Berlin, 1783.
<TEI> <text> <body> <div> <div> <p><pb facs="#f0114" n="110"/><lb/> mende Seele auf, der er erzaͤhlen kann, was er gesehen oder gehoͤrt, und was er dabei empfunden hat. Freilich verschwindet der Eindruck, den der Anblick eines Elenden oder eine ruͤhrende Erzaͤhlung auf sein Herz gemacht hat, auch bald wieder, denn sein allzureizbares Nervensystem findet in jedem Augenblick einen anziehenden Gegenstand, der ihn zerstreuet. Daher ist die Reihe vernuͤnftiger Vorstellungen, die er an sinnliche Eindruͤcke knuͤpft, gewoͤhnlich sehr kurz. Ueberhaupt mag er nicht gern lange nachdenken, und er wird sich sehr anstrengen muͤssen, wenn er es in irgend einer Wissenschaft, die viel abstraktes Denken erfordert, zu einiger Vollkommenheit bringen will. Desto ausdauernder ist er hingegen bei kuͤnstlichen Beschaͤftigungen, bei denen die Sinne im Spiel sind. So schnitzt er z.B. Pfeifen aus Schilf und Haberstroh, und bessert so lange, mit unglaublicher Geduld, daran, bis ihre Toͤne rein und seinem Ohr harmonisch werden. Er zeichnet oft halbe Tage lang, ohne vom Tische aufzustehen; seine Zeichnungen sind aber so, wie die kleinen Figuren, die er in Wachs poußirt, gemeiniglich bloße Kinder seiner Jmagination, denn er nimmt selten bei diesen Arbeiten ein Muster vor die Augen; daher entstehen denn oft die sonderbarsten Gestalten, deren Bedeutung er gemeiniglich erst erklaͤren muß. Sein Ehrgeitz findet sich durch nichts so sehr beleidigt, als wenn diese seine Werke, oder seine oft zu kindischen Einfaͤlle, etwa von seinen Ge-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [110/0114]
mende Seele auf, der er erzaͤhlen kann, was er gesehen oder gehoͤrt, und was er dabei empfunden hat. Freilich verschwindet der Eindruck, den der Anblick eines Elenden oder eine ruͤhrende Erzaͤhlung auf sein Herz gemacht hat, auch bald wieder, denn sein allzureizbares Nervensystem findet in jedem Augenblick einen anziehenden Gegenstand, der ihn zerstreuet. Daher ist die Reihe vernuͤnftiger Vorstellungen, die er an sinnliche Eindruͤcke knuͤpft, gewoͤhnlich sehr kurz. Ueberhaupt mag er nicht gern lange nachdenken, und er wird sich sehr anstrengen muͤssen, wenn er es in irgend einer Wissenschaft, die viel abstraktes Denken erfordert, zu einiger Vollkommenheit bringen will. Desto ausdauernder ist er hingegen bei kuͤnstlichen Beschaͤftigungen, bei denen die Sinne im Spiel sind. So schnitzt er z.B. Pfeifen aus Schilf und Haberstroh, und bessert so lange, mit unglaublicher Geduld, daran, bis ihre Toͤne rein und seinem Ohr harmonisch werden. Er zeichnet oft halbe Tage lang, ohne vom Tische aufzustehen; seine Zeichnungen sind aber so, wie die kleinen Figuren, die er in Wachs poußirt, gemeiniglich bloße Kinder seiner Jmagination, denn er nimmt selten bei diesen Arbeiten ein Muster vor die Augen; daher entstehen denn oft die sonderbarsten Gestalten, deren Bedeutung er gemeiniglich erst erklaͤren muß. Sein Ehrgeitz findet sich durch nichts so sehr beleidigt, als wenn diese seine Werke, oder seine oft zu kindischen Einfaͤlle, etwa von seinen Ge-
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(2015-06-09T11:00:00Z)
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Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat
(2015-06-09T11:00:00Z)
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