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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 2. Berlin, 1783.

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Blumen meiner Bettgardinen und des Schirms, erschienen mir als Menschen, die in beständiger Bewegung sind. Sie gingen alle nach der Wand zu, und da es lauter Bekannte waren, die mir meine Phantasie in ihnen darstellte, so ging ich ihnen oft nach, und befand mich mit ihnen in grossen erleuchteten Zimmern zwischen den Wänden, wo ich die tiefsten und verborgensten Familiengeheimnisse, die in der Oberwelt jeder Mensch in der innersten Kammer seines Herzens vergraben hält, erfuhr. Jch habe einst meine Geliebte ans Bette gerufen, und ihr eine schreckliche Begebenheit zweier unsrer Bekannten und Freunde erzählt, die ich in dieser geheimen schauervollen unterirdischen Versammlung erfahren hatte, und dies mit so vielem Zusammenhang und so grosser Wahrscheinlichkeit, daß sie es für nichts anders, als für eine wahre Geschichte hielt, die ich längst vor meiner Krankheit schon wußte, ohne sie ihr zu entdecken, und daß ich etwa aus Unbesonnenheit jetzt schwatzhaft wurde. So tief und unauslöschlich stach der Grabstichel der Natur die Gesetze in unserer Seele, daß sie, in dem widernatürlichsten Zustande dieser, dem flüchtigen Auge zwar unkenntlich scheinen, den forschenden bewaffneten aber in ihrer völligen Deutlichkeit sich darstellen. Der größte Theil menschlicher Begriffe sind Verhältnißbegriffe. Ordnung und Unordnung bestimmen wir nach willkührlich von uns vorausgesetzten Regeln, an sich ist Unordnung in der Na-


Blumen meiner Bettgardinen und des Schirms, erschienen mir als Menschen, die in bestaͤndiger Bewegung sind. Sie gingen alle nach der Wand zu, und da es lauter Bekannte waren, die mir meine Phantasie in ihnen darstellte, so ging ich ihnen oft nach, und befand mich mit ihnen in grossen erleuchteten Zimmern zwischen den Waͤnden, wo ich die tiefsten und verborgensten Familiengeheimnisse, die in der Oberwelt jeder Mensch in der innersten Kammer seines Herzens vergraben haͤlt, erfuhr. Jch habe einst meine Geliebte ans Bette gerufen, und ihr eine schreckliche Begebenheit zweier unsrer Bekannten und Freunde erzaͤhlt, die ich in dieser geheimen schauervollen unterirdischen Versammlung erfahren hatte, und dies mit so vielem Zusammenhang und so grosser Wahrscheinlichkeit, daß sie es fuͤr nichts anders, als fuͤr eine wahre Geschichte hielt, die ich laͤngst vor meiner Krankheit schon wußte, ohne sie ihr zu entdecken, und daß ich etwa aus Unbesonnenheit jetzt schwatzhaft wurde. So tief und unausloͤschlich stach der Grabstichel der Natur die Gesetze in unserer Seele, daß sie, in dem widernatuͤrlichsten Zustande dieser, dem fluͤchtigen Auge zwar unkenntlich scheinen, den forschenden bewaffneten aber in ihrer voͤlligen Deutlichkeit sich darstellen. Der groͤßte Theil menschlicher Begriffe sind Verhaͤltnißbegriffe. Ordnung und Unordnung bestimmen wir nach willkuͤhrlich von uns vorausgesetzten Regeln, an sich ist Unordnung in der Na-

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[61/0065] Blumen meiner Bettgardinen und des Schirms, erschienen mir als Menschen, die in bestaͤndiger Bewegung sind. Sie gingen alle nach der Wand zu, und da es lauter Bekannte waren, die mir meine Phantasie in ihnen darstellte, so ging ich ihnen oft nach, und befand mich mit ihnen in grossen erleuchteten Zimmern zwischen den Waͤnden, wo ich die tiefsten und verborgensten Familiengeheimnisse, die in der Oberwelt jeder Mensch in der innersten Kammer seines Herzens vergraben haͤlt, erfuhr. Jch habe einst meine Geliebte ans Bette gerufen, und ihr eine schreckliche Begebenheit zweier unsrer Bekannten und Freunde erzaͤhlt, die ich in dieser geheimen schauervollen unterirdischen Versammlung erfahren hatte, und dies mit so vielem Zusammenhang und so grosser Wahrscheinlichkeit, daß sie es fuͤr nichts anders, als fuͤr eine wahre Geschichte hielt, die ich laͤngst vor meiner Krankheit schon wußte, ohne sie ihr zu entdecken, und daß ich etwa aus Unbesonnenheit jetzt schwatzhaft wurde. So tief und unausloͤschlich stach der Grabstichel der Natur die Gesetze in unserer Seele, daß sie, in dem widernatuͤrlichsten Zustande dieser, dem fluͤchtigen Auge zwar unkenntlich scheinen, den forschenden bewaffneten aber in ihrer voͤlligen Deutlichkeit sich darstellen. Der groͤßte Theil menschlicher Begriffe sind Verhaͤltnißbegriffe. Ordnung und Unordnung bestimmen wir nach willkuͤhrlich von uns vorausgesetzten Regeln, an sich ist Unordnung in der Na-

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 2. Berlin, 1783, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0102_1783/65>, abgerufen am 29.11.2024.