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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 10, St. 3. Berlin, 1793.

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Warum soll nun der Taubstumme nicht auf eben die Art die richtige Bedeutung der Wörter lernen? Bei ihm vertritt das geschriebene Wort die Stelle des ausgesprochenen. Das eine ist so gut ein willkührliches Zeichen als das andere. Man schreibt ihm das Wort Verstand auf, und nachdem er Lesen, d.h. die pantomimischen Zeichen die der Lehrer anfangs mit diesem geschriebenen Worte verknüpft (z.B. das Zeigen auf die Stirn) in seine Einbildungskraft zurückzurufen, gelernt hat, so wird er auch wissen, daß dieses geschriebene Wort nichts anders als das Denkensvermögen bedeuten kann, weil er für alle andere Sachen, die mit eben diesen pantomimischen Zeichen angedeutet werden können, schon andere geschriebene Wörter erlernt hat.

Das Ungrammatische in der Wortfolge u.s.w. kann bei dem Taubstummen so wenig als bei irgend einem andern der eine Sprache lernt, ein Beweis von dem Mangel der Gedanken abgeben. Das giebt sich schon, und wird durch Nachahmung anderer die der Sprache mächtig sind, nach und nach verbessert. Sonst müßte man behaupten, daß wenn z.B. ein Anfänger der französischen Sprache viel Germanismen begeht, er ganz und gar nicht weiß, was er spricht! Der Taubstumme kann auch mit der Zeit, die grammatische Wortfolge in seiner pantomimischen Sprache, nach der grammatischen Wortfolge der Schriftsprache einzurichten lernen.


Warum soll nun der Taubstumme nicht auf eben die Art die richtige Bedeutung der Woͤrter lernen? Bei ihm vertritt das geschriebene Wort die Stelle des ausgesprochenen. Das eine ist so gut ein willkuͤhrliches Zeichen als das andere. Man schreibt ihm das Wort Verstand auf, und nachdem er Lesen, d.h. die pantomimischen Zeichen die der Lehrer anfangs mit diesem geschriebenen Worte verknuͤpft (z.B. das Zeigen auf die Stirn) in seine Einbildungskraft zuruͤckzurufen, gelernt hat, so wird er auch wissen, daß dieses geschriebene Wort nichts anders als das Denkensvermoͤgen bedeuten kann, weil er fuͤr alle andere Sachen, die mit eben diesen pantomimischen Zeichen angedeutet werden koͤnnen, schon andere geschriebene Woͤrter erlernt hat.

Das Ungrammatische in der Wortfolge u.s.w. kann bei dem Taubstummen so wenig als bei irgend einem andern der eine Sprache lernt, ein Beweis von dem Mangel der Gedanken abgeben. Das giebt sich schon, und wird durch Nachahmung anderer die der Sprache maͤchtig sind, nach und nach verbessert. Sonst muͤßte man behaupten, daß wenn z.B. ein Anfaͤnger der franzoͤsischen Sprache viel Germanismen begeht, er ganz und gar nicht weiß, was er spricht! Der Taubstumme kann auch mit der Zeit, die grammatische Wortfolge in seiner pantomimischen Sprache, nach der grammatischen Wortfolge der Schriftsprache einzurichten lernen.

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[56/0056] Warum soll nun der Taubstumme nicht auf eben die Art die richtige Bedeutung der Woͤrter lernen? Bei ihm vertritt das geschriebene Wort die Stelle des ausgesprochenen. Das eine ist so gut ein willkuͤhrliches Zeichen als das andere. Man schreibt ihm das Wort Verstand auf, und nachdem er Lesen, d.h. die pantomimischen Zeichen die der Lehrer anfangs mit diesem geschriebenen Worte verknuͤpft (z.B. das Zeigen auf die Stirn) in seine Einbildungskraft zuruͤckzurufen, gelernt hat, so wird er auch wissen, daß dieses geschriebene Wort nichts anders als das Denkensvermoͤgen bedeuten kann, weil er fuͤr alle andere Sachen, die mit eben diesen pantomimischen Zeichen angedeutet werden koͤnnen, schon andere geschriebene Woͤrter erlernt hat. Das Ungrammatische in der Wortfolge u.s.w. kann bei dem Taubstummen so wenig als bei irgend einem andern der eine Sprache lernt, ein Beweis von dem Mangel der Gedanken abgeben. Das giebt sich schon, und wird durch Nachahmung anderer die der Sprache maͤchtig sind, nach und nach verbessert. Sonst muͤßte man behaupten, daß wenn z.B. ein Anfaͤnger der franzoͤsischen Sprache viel Germanismen begeht, er ganz und gar nicht weiß, was er spricht! Der Taubstumme kann auch mit der Zeit, die grammatische Wortfolge in seiner pantomimischen Sprache, nach der grammatischen Wortfolge der Schriftsprache einzurichten lernen.

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 10, St. 3. Berlin, 1793, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde01003_1793/56>, abgerufen am 02.05.2024.