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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856.

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FÜNFTES BUCH. KAPITEL XII.
die Weltgeschichte von Polybios geschrieben ward, ist man in
Rom eigentlich niemals gelangt. Selbst auf dem dafür am mei-
sten geeigneten Boden, in der Darstellung der gleichzeitigen und
der jüngst vergangenen Ereignisse blieb es im Ganzen bei mehr
oder minder unzulänglichen Versuchen; in der Epoche nament-
lich von Sulla bis auf Caesar wurden die nicht sehr bedeutenden
Leistungen, welche die vorhergehende auf diesem Gebiet aufzu-
weisen hatte, die Arbeiten Antipaters und Asellios, kaum auch
nur erreicht. Das einzige diesem Gebiete angehörende namhafte
Werk, das in der gegenwärtigen Epoche entstand, ist des Lucius
Cornelius Sisenna (Praetor 676) Geschichte des Bundesgenossen-
und Bürgerkrieges. Von ihr bezeugen die, welche sie lasen, dass
sie an Lebendigkeit und Lesbarkeit die alten trockenen Chroniken
weit übertraf, aber auch in einem durchaus unreinen und selbst

ihn desswegen um Rath gefragt, nicht bloss über die Gottheiten, denen nach
altem Brauch für der Kinder Wohl zu opfern war, sondern, hinweisend auf
die verständigere Kindererziehung der Perser und auf seine eigene streng
verlebte Jugend, warnt er vor Ueberfüttern und Ueberschlafen, vor süssem
Brot und feiner Kost -- die jungen Hunde, meint der Alte, werden jetzt
verständiger genährt als die Kinder --, ebenso vor dem Besiebnen und
Besegnen, das in Krankheitsfällen so oft die Stelle des ärztlichen Rathes
vertrat. Er räth die Mädchen zum Sticken anzuhalten, damit sie später die
Stickereien und Webereien richtig zu beurtheilen verständen, und sie nicht
zu früh das Kinderkleid ablegen zu lassen; er warnt davor die Knaben in
die Fechterspiele zu führen, in denen früh das Herz verhärtet und die
Grausamkeit gelernt wird. -- In dem ,Mann von sechzig Jahren' erscheint
Varro als römischer Epimenides, der, als zehnjähriger Knabe eingeschla-
fen, nach einem halben Jahrhundert wieder erwacht. Er staunt darüber
statt seines glattgeschornen Knabenkopfes ein altes Glatzhaupt wiederzu-
finden, mit hässlicher Schnauze und wüsten Borsten gleich dem Igel; mehr
noch aber staunt er über das verwandelte Rom. Die lucrinischen Austern,
sonst eine Hochzeitschüssel, sind jetzt ein Alltagsgericht; dafür rüstet
denn auch der bankerotte Schlemmer im Stillen die Brandfackel. Wenn
sonst der Vater dem Knaben vergab, so ist jetzt das Vergeben an den Kna-
ben gekommen: das heisst, er vergiebt den Vater mit Gift. Der Wahlplatz
ist zur Börse geworden, der Criminalprozess zur Goldgrube für den Ge-
schwornen. Keinem Gesetze wird noch gehorcht, ausser dem einen, dass
nichts für nichts gegeben wird. Alle Tugenden sind geschwunden; dafür
begrüssen den Erwachten als neue Insassen die Gotteslasterung, die Wort-
losigkeit, die Geilheit. ,O wehe dir, Marcus, über solchen Schlaf und sol-
ches Erwachen!' -- Die Skizze gleicht der catilinarischen Zeit, kurz nach
welcher (um 697) sie der alte Mann geschrieben haben muss, und es lag
eine Wahrheit in der bittern Schlusswendung, wo der Marcus, gehörig
ausgescholten wegen seiner unzeitgemässen Anklagen und antiquarischen
Reminiscenzen, mit parodischer Anwendung einer uralten römischen Sitte
als unnützer Greis auf die Brücke geschleppt und in die Tiber gestürzt
wird. Es war allerdings für solche Männer in Rom kein Platz mehr.

FÜNFTES BUCH. KAPITEL XII.
die Weltgeschichte von Polybios geschrieben ward, ist man in
Rom eigentlich niemals gelangt. Selbst auf dem dafür am mei-
sten geeigneten Boden, in der Darstellung der gleichzeitigen und
der jüngst vergangenen Ereignisse blieb es im Ganzen bei mehr
oder minder unzulänglichen Versuchen; in der Epoche nament-
lich von Sulla bis auf Caesar wurden die nicht sehr bedeutenden
Leistungen, welche die vorhergehende auf diesem Gebiet aufzu-
weisen hatte, die Arbeiten Antipaters und Asellios, kaum auch
nur erreicht. Das einzige diesem Gebiete angehörende namhafte
Werk, das in der gegenwärtigen Epoche entstand, ist des Lucius
Cornelius Sisenna (Praetor 676) Geschichte des Bundesgenossen-
und Bürgerkrieges. Von ihr bezeugen die, welche sie lasen, daſs
sie an Lebendigkeit und Lesbarkeit die alten trockenen Chroniken
weit übertraf, aber auch in einem durchaus unreinen und selbst

ihn deſswegen um Rath gefragt, nicht bloſs über die Gottheiten, denen nach
altem Brauch für der Kinder Wohl zu opfern war, sondern, hinweisend auf
die verständigere Kindererziehung der Perser und auf seine eigene streng
verlebte Jugend, warnt er vor Ueberfüttern und Ueberschlafen, vor süſsem
Brot und feiner Kost — die jungen Hunde, meint der Alte, werden jetzt
verständiger genährt als die Kinder —, ebenso vor dem Besiebnen und
Besegnen, das in Krankheitsfällen so oft die Stelle des ärztlichen Rathes
vertrat. Er räth die Mädchen zum Sticken anzuhalten, damit sie später die
Stickereien und Webereien richtig zu beurtheilen verständen, und sie nicht
zu früh das Kinderkleid ablegen zu lassen; er warnt davor die Knaben in
die Fechterspiele zu führen, in denen früh das Herz verhärtet und die
Grausamkeit gelernt wird. — In dem ‚Mann von sechzig Jahren‘ erscheint
Varro als römischer Epimenides, der, als zehnjähriger Knabe eingeschla-
fen, nach einem halben Jahrhundert wieder erwacht. Er staunt darüber
statt seines glattgeschornen Knabenkopfes ein altes Glatzhaupt wiederzu-
finden, mit häſslicher Schnauze und wüsten Borsten gleich dem Igel; mehr
noch aber staunt er über das verwandelte Rom. Die lucrinischen Austern,
sonst eine Hochzeitschüssel, sind jetzt ein Alltagsgericht; dafür rüstet
denn auch der bankerotte Schlemmer im Stillen die Brandfackel. Wenn
sonst der Vater dem Knaben vergab, so ist jetzt das Vergeben an den Kna-
ben gekommen: das heiſst, er vergiebt den Vater mit Gift. Der Wahlplatz
ist zur Börse geworden, der Criminalprozeſs zur Goldgrube für den Ge-
schwornen. Keinem Gesetze wird noch gehorcht, auſser dem einen, daſs
nichts für nichts gegeben wird. Alle Tugenden sind geschwunden; dafür
begrüſsen den Erwachten als neue Insassen die Gotteslasterung, die Wort-
losigkeit, die Geilheit. ‚O wehe dir, Marcus, über solchen Schlaf und sol-
ches Erwachen!‘ — Die Skizze gleicht der catilinarischen Zeit, kurz nach
welcher (um 697) sie der alte Mann geschrieben haben muſs, und es lag
eine Wahrheit in der bittern Schluſswendung, wo der Marcus, gehörig
ausgescholten wegen seiner unzeitgemäſsen Anklagen und antiquarischen
Reminiscenzen, mit parodischer Anwendung einer uralten römischen Sitte
als unnützer Greis auf die Brücke geschleppt und in die Tiber gestürzt
wird. Es war allerdings für solche Männer in Rom kein Platz mehr.
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[564/0574] FÜNFTES BUCH. KAPITEL XII. die Weltgeschichte von Polybios geschrieben ward, ist man in Rom eigentlich niemals gelangt. Selbst auf dem dafür am mei- sten geeigneten Boden, in der Darstellung der gleichzeitigen und der jüngst vergangenen Ereignisse blieb es im Ganzen bei mehr oder minder unzulänglichen Versuchen; in der Epoche nament- lich von Sulla bis auf Caesar wurden die nicht sehr bedeutenden Leistungen, welche die vorhergehende auf diesem Gebiet aufzu- weisen hatte, die Arbeiten Antipaters und Asellios, kaum auch nur erreicht. Das einzige diesem Gebiete angehörende namhafte Werk, das in der gegenwärtigen Epoche entstand, ist des Lucius Cornelius Sisenna (Praetor 676) Geschichte des Bundesgenossen- und Bürgerkrieges. Von ihr bezeugen die, welche sie lasen, daſs sie an Lebendigkeit und Lesbarkeit die alten trockenen Chroniken weit übertraf, aber auch in einem durchaus unreinen und selbst * * ihn deſswegen um Rath gefragt, nicht bloſs über die Gottheiten, denen nach altem Brauch für der Kinder Wohl zu opfern war, sondern, hinweisend auf die verständigere Kindererziehung der Perser und auf seine eigene streng verlebte Jugend, warnt er vor Ueberfüttern und Ueberschlafen, vor süſsem Brot und feiner Kost — die jungen Hunde, meint der Alte, werden jetzt verständiger genährt als die Kinder —, ebenso vor dem Besiebnen und Besegnen, das in Krankheitsfällen so oft die Stelle des ärztlichen Rathes vertrat. Er räth die Mädchen zum Sticken anzuhalten, damit sie später die Stickereien und Webereien richtig zu beurtheilen verständen, und sie nicht zu früh das Kinderkleid ablegen zu lassen; er warnt davor die Knaben in die Fechterspiele zu führen, in denen früh das Herz verhärtet und die Grausamkeit gelernt wird. — In dem ‚Mann von sechzig Jahren‘ erscheint Varro als römischer Epimenides, der, als zehnjähriger Knabe eingeschla- fen, nach einem halben Jahrhundert wieder erwacht. Er staunt darüber statt seines glattgeschornen Knabenkopfes ein altes Glatzhaupt wiederzu- finden, mit häſslicher Schnauze und wüsten Borsten gleich dem Igel; mehr noch aber staunt er über das verwandelte Rom. Die lucrinischen Austern, sonst eine Hochzeitschüssel, sind jetzt ein Alltagsgericht; dafür rüstet denn auch der bankerotte Schlemmer im Stillen die Brandfackel. Wenn sonst der Vater dem Knaben vergab, so ist jetzt das Vergeben an den Kna- ben gekommen: das heiſst, er vergiebt den Vater mit Gift. Der Wahlplatz ist zur Börse geworden, der Criminalprozeſs zur Goldgrube für den Ge- schwornen. Keinem Gesetze wird noch gehorcht, auſser dem einen, daſs nichts für nichts gegeben wird. Alle Tugenden sind geschwunden; dafür begrüſsen den Erwachten als neue Insassen die Gotteslasterung, die Wort- losigkeit, die Geilheit. ‚O wehe dir, Marcus, über solchen Schlaf und sol- ches Erwachen!‘ — Die Skizze gleicht der catilinarischen Zeit, kurz nach welcher (um 697) sie der alte Mann geschrieben haben muſs, und es lag eine Wahrheit in der bittern Schluſswendung, wo der Marcus, gehörig ausgescholten wegen seiner unzeitgemäſsen Anklagen und antiquarischen Reminiscenzen, mit parodischer Anwendung einer uralten römischen Sitte als unnützer Greis auf die Brücke geschleppt und in die Tiber gestürzt wird. Es war allerdings für solche Männer in Rom kein Platz mehr.

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856, S. 564. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische03_1856/574>, abgerufen am 24.11.2024.