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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856.

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LITTERATUR.
in das Kindische verfallenden Stil geschrieben war; wie denn
auch die wenigen übrigen Bruchstücke eine kleinliche Detailma-
lerei des Grässlichen* und eine Menge neu gebildeter oder der
Umgangssprache entnommener Wörter aufzeigen. Wenn noch
hinzugefügt wird, dass das Muster des Verfassers und so zu sagen
der einzige ihm geläufige griechische Historiker Kleitarchos war,
der Verfasser einer zwischen Geschichte und Fiction schwanken-
den Biographie Alexanders des Grossen in der Art des Halbro-
mans, der den Namen des Curtius trägt, so wird man nicht an-
stehen in Sisennas vielgerühmten Geschichtswerk nicht ein Er-
zeugniss echter historischer Kritik und Kunst zu erkennen, son-
dern den ersten römischen Versuch in der bei den Griechen so
beliebten historischen Zwittergattung, welche das historische
Grundwerk durch erfundene Ausführung lebendig und interessant
machen möchte und es dadurch schal und unwahr macht; und es
wird nicht ferner Verwunderung erregen demselben Sisenna auch
als Uebersetzer griechischer Moderomane zu begegnen (S. 556).
-- Dass es auf dem Gebiet der allgemeinen Stadt- und gar der
Welt-Chronik noch weit erbärmlicher aussah, lag in der Natur
der Sache. Zwar Gaius Licinius Macer (+ als gewesener Prae-
tor 688), des Dichters Calvus (S. 554) Vater und ein eifriger
Demokrat (S. 86), nahm einen achtbaren Anlauf die Urkunden
und sonstige zuverlässige Quellen nach Polybios Vorgang wieder
an das Licht zu ziehen und danach die gangbare Erzählung zu
rectificiren; und die steigende Regsamkeit der antiquarischen
Forschung liess erwarten, dass dieser erste Versuch nicht ver-
einzelt bleiben werde. Allein es trat das gerade Gegentheil ein.
Je mehr und je tiefer man forschte, desto deutlicher trat es her-
vor, was es hiess eine kritische Geschichte Roms zu schreiben.
Schon die Schwierigkeiten, die der Forschung und Darstel-
lung sich entgegenstellten, waren unermesslich; aber die be-
denklichsten Hindernisse waren nicht die litterarischer Art. Die
conventionelle Urgeschichte Roms, wie sie jetzt seit wenig-
stens zehn Menschenaltern erzählt und geglaubt ward (I, 303),
war mit dem bürgerlichen Leben der Nation aufs innigste zu-
sammengewachsen; und doch musste bei jeder eingehenden
und ehrlichen Forschung nicht bloss Einzelnes hie und da mo-

* ,Die Unschuldigen', hiess es in einer Rede, ,schleppst du, zitternd
an allen Gliedern, heraus und am hohen Uferrande des Flusses beim Mor-
gengrauen' [lässest du sie schlachten]. Solche ohne Mühe einer Taschen-
buchsnovelle einzufügende Phrasen begegnen mehrere.

LITTERATUR.
in das Kindische verfallenden Stil geschrieben war; wie denn
auch die wenigen übrigen Bruchstücke eine kleinliche Detailma-
lerei des Gräſslichen* und eine Menge neu gebildeter oder der
Umgangssprache entnommener Wörter aufzeigen. Wenn noch
hinzugefügt wird, daſs das Muster des Verfassers und so zu sagen
der einzige ihm geläufige griechische Historiker Kleitarchos war,
der Verfasser einer zwischen Geschichte und Fiction schwanken-
den Biographie Alexanders des Groſsen in der Art des Halbro-
mans, der den Namen des Curtius trägt, so wird man nicht an-
stehen in Sisennas vielgerühmten Geschichtswerk nicht ein Er-
zeugniſs echter historischer Kritik und Kunst zu erkennen, son-
dern den ersten römischen Versuch in der bei den Griechen so
beliebten historischen Zwittergattung, welche das historische
Grundwerk durch erfundene Ausführung lebendig und interessant
machen möchte und es dadurch schal und unwahr macht; und es
wird nicht ferner Verwunderung erregen demselben Sisenna auch
als Uebersetzer griechischer Moderomane zu begegnen (S. 556).
— Daſs es auf dem Gebiet der allgemeinen Stadt- und gar der
Welt-Chronik noch weit erbärmlicher aussah, lag in der Natur
der Sache. Zwar Gaius Licinius Macer († als gewesener Prae-
tor 688), des Dichters Calvus (S. 554) Vater und ein eifriger
Demokrat (S. 86), nahm einen achtbaren Anlauf die Urkunden
und sonstige zuverlässige Quellen nach Polybios Vorgang wieder
an das Licht zu ziehen und danach die gangbare Erzählung zu
rectificiren; und die steigende Regsamkeit der antiquarischen
Forschung lieſs erwarten, daſs dieser erste Versuch nicht ver-
einzelt bleiben werde. Allein es trat das gerade Gegentheil ein.
Je mehr und je tiefer man forschte, desto deutlicher trat es her-
vor, was es hieſs eine kritische Geschichte Roms zu schreiben.
Schon die Schwierigkeiten, die der Forschung und Darstel-
lung sich entgegenstellten, waren unermeſslich; aber die be-
denklichsten Hindernisse waren nicht die litterarischer Art. Die
conventionelle Urgeschichte Roms, wie sie jetzt seit wenig-
stens zehn Menschenaltern erzählt und geglaubt ward (I, 303),
war mit dem bürgerlichen Leben der Nation aufs innigste zu-
sammengewachsen; und doch muſste bei jeder eingehenden
und ehrlichen Forschung nicht bloſs Einzelnes hie und da mo-

* ‚Die Unschuldigen‘, hieſs es in einer Rede, ‚schleppst du, zitternd
an allen Gliedern, heraus und am hohen Uferrande des Flusses beim Mor-
gengrauen‘ [lässest du sie schlachten]. Solche ohne Mühe einer Taschen-
buchsnovelle einzufügende Phrasen begegnen mehrere.
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[565/0575] LITTERATUR. in das Kindische verfallenden Stil geschrieben war; wie denn auch die wenigen übrigen Bruchstücke eine kleinliche Detailma- lerei des Gräſslichen * und eine Menge neu gebildeter oder der Umgangssprache entnommener Wörter aufzeigen. Wenn noch hinzugefügt wird, daſs das Muster des Verfassers und so zu sagen der einzige ihm geläufige griechische Historiker Kleitarchos war, der Verfasser einer zwischen Geschichte und Fiction schwanken- den Biographie Alexanders des Groſsen in der Art des Halbro- mans, der den Namen des Curtius trägt, so wird man nicht an- stehen in Sisennas vielgerühmten Geschichtswerk nicht ein Er- zeugniſs echter historischer Kritik und Kunst zu erkennen, son- dern den ersten römischen Versuch in der bei den Griechen so beliebten historischen Zwittergattung, welche das historische Grundwerk durch erfundene Ausführung lebendig und interessant machen möchte und es dadurch schal und unwahr macht; und es wird nicht ferner Verwunderung erregen demselben Sisenna auch als Uebersetzer griechischer Moderomane zu begegnen (S. 556). — Daſs es auf dem Gebiet der allgemeinen Stadt- und gar der Welt-Chronik noch weit erbärmlicher aussah, lag in der Natur der Sache. Zwar Gaius Licinius Macer († als gewesener Prae- tor 688), des Dichters Calvus (S. 554) Vater und ein eifriger Demokrat (S. 86), nahm einen achtbaren Anlauf die Urkunden und sonstige zuverlässige Quellen nach Polybios Vorgang wieder an das Licht zu ziehen und danach die gangbare Erzählung zu rectificiren; und die steigende Regsamkeit der antiquarischen Forschung lieſs erwarten, daſs dieser erste Versuch nicht ver- einzelt bleiben werde. Allein es trat das gerade Gegentheil ein. Je mehr und je tiefer man forschte, desto deutlicher trat es her- vor, was es hieſs eine kritische Geschichte Roms zu schreiben. Schon die Schwierigkeiten, die der Forschung und Darstel- lung sich entgegenstellten, waren unermeſslich; aber die be- denklichsten Hindernisse waren nicht die litterarischer Art. Die conventionelle Urgeschichte Roms, wie sie jetzt seit wenig- stens zehn Menschenaltern erzählt und geglaubt ward (I, 303), war mit dem bürgerlichen Leben der Nation aufs innigste zu- sammengewachsen; und doch muſste bei jeder eingehenden und ehrlichen Forschung nicht bloſs Einzelnes hie und da mo- * ‚Die Unschuldigen‘, hieſs es in einer Rede, ‚schleppst du, zitternd an allen Gliedern, heraus und am hohen Uferrande des Flusses beim Mor- gengrauen‘ [lässest du sie schlachten]. Solche ohne Mühe einer Taschen- buchsnovelle einzufügende Phrasen begegnen mehrere.

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856, S. 565. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische03_1856/575>, abgerufen am 03.05.2024.