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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856.

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FÜNFTES BUCH. KAPITEL XII.
den uralten Weisen -- wie Geburt und Tod mit einander ver-
wandt sind, so, schien es, sollte Pythagoras nicht bloss an der
Wiege der Republik stehen als der Freund des weisen Numa und
College der klugen Mutter Egeria, sondern auch als der letzte
Hort der heiligen Vogelweisheit an ihrem Grabe. Das neue Sy-
stem war aber nicht bloss wunderhaft, es wirkte auch Wunder:
Nigidius verkündigte dem Vater des nachmaligen Kaisers Augustus
an dem Tage selbst, wo dieser geboren ward, die künftige Grösse
des Sohnes; ja die Propheten bannten den Gläubigen Geister und
was mehr sagen will, sie wiesen ihnen die Plätze nach, wo ihre
verlorenen Münzen lagen. Die neu-alte Weisheit, wie sie nun eben
war, machte doch auf die Zeitgenossen einen tiefen Eindruck; die
vornehmsten, gelehrtesten, tüchtigsten Männer der verschieden-
sten Parteien, der Consul des J. 700 Appius Claudius, der grosse
Litterator Marcus Varro, der tapfere Offizier Publius Vatinius
machten das Geistercitiren mit und es scheint sogar, dass gegen
das Treiben dieser Gesellschaften polizeilich eingeschritten wer-
den musste. Diese letzten Versuche die römische Theologie zu ret-
ten machen, ähnlich wie Catos verwandte Bestrebungen auf dem
politischen Gebiet, zugleich einen komischen und einen wehmüthi-
gen Eindruck; man darf über das Evangelium wie über die Apo-
stel lächeln, aber immer ist es eine ernsthafte Sache, wenn auch
die tüchtigen Männer anfangen sich dem Absurden zu ergeben.

Die Jugendbildung bewegte sich, wie sich von selbst ver-
steht, in dem in der vorigen Epoche vorgezeichneten Kreise zwie-
sprachiger Humanität. Charakteristisch für den in der römischen
Welt im Laufe eines Jahrhunderts durchaus umgewandelten Be-
griff von allgemeiner Bildung ist die Vergleichung der catonischen
Encyclopädie (I, 636) mit der gleichnamigen Schrift Varros, von
den Schulwissenschaften'. Als Bestandtheile der nicht fachwis-
senschaftlichen Bildung erscheinen bei Cato die Sittenlehre, die
Redekunst, die Ackerbau-, Rechts-, Kriegs- und Arzneikunde, bei
Varro -- nach wahrscheinlicher Vermuthung -- Grammatik, Lo-
gik oder Dialektik, Rhetorik, Geometrie, Arithmetik, Astronomie,
Musik, Medicin und Architektur. Der Moralkatechismus also hat
aufgehört als Bestandtheil der Jugendbildung zu gelten und Kriegs-,
Rechts- und Ackerbaukunde sind aus allgemeinen zu Fachwis-
senschaften geworden. Dagegen tritt bei Varro die hellenische Ju-
gendbildung bereits in ihrer ganzen Vollständigkeit auf: neben dem
grammatisch-rhetorisch-philosophischen Cursus, der schon länger
in Italien recipirt war, findet jetzt auch der länger specifisch hel-
lenisch gebliebene geometrisch-arithmetisch-astronomisch-mu-

FÜNFTES BUCH. KAPITEL XII.
den uralten Weisen — wie Geburt und Tod mit einander ver-
wandt sind, so, schien es, sollte Pythagoras nicht bloſs an der
Wiege der Republik stehen als der Freund des weisen Numa und
College der klugen Mutter Egeria, sondern auch als der letzte
Hort der heiligen Vogelweisheit an ihrem Grabe. Das neue Sy-
stem war aber nicht bloſs wunderhaft, es wirkte auch Wunder:
Nigidius verkündigte dem Vater des nachmaligen Kaisers Augustus
an dem Tage selbst, wo dieser geboren ward, die künftige Gröſse
des Sohnes; ja die Propheten bannten den Gläubigen Geister und
was mehr sagen will, sie wiesen ihnen die Plätze nach, wo ihre
verlorenen Münzen lagen. Die neu-alte Weisheit, wie sie nun eben
war, machte doch auf die Zeitgenossen einen tiefen Eindruck; die
vornehmsten, gelehrtesten, tüchtigsten Männer der verschieden-
sten Parteien, der Consul des J. 700 Appius Claudius, der groſse
Litterator Marcus Varro, der tapfere Offizier Publius Vatinius
machten das Geistercitiren mit und es scheint sogar, daſs gegen
das Treiben dieser Gesellschaften polizeilich eingeschritten wer-
den muſste. Diese letzten Versuche die römische Theologie zu ret-
ten machen, ähnlich wie Catos verwandte Bestrebungen auf dem
politischen Gebiet, zugleich einen komischen und einen wehmüthi-
gen Eindruck; man darf über das Evangelium wie über die Apo-
stel lächeln, aber immer ist es eine ernsthafte Sache, wenn auch
die tüchtigen Männer anfangen sich dem Absurden zu ergeben.

Die Jugendbildung bewegte sich, wie sich von selbst ver-
steht, in dem in der vorigen Epoche vorgezeichneten Kreise zwie-
sprachiger Humanität. Charakteristisch für den in der römischen
Welt im Laufe eines Jahrhunderts durchaus umgewandelten Be-
griff von allgemeiner Bildung ist die Vergleichung der catonischen
Encyclopädie (I, 636) mit der gleichnamigen Schrift Varros, von
den Schulwissenschaften‘. Als Bestandtheile der nicht fachwis-
senschaftlichen Bildung erscheinen bei Cato die Sittenlehre, die
Redekunst, die Ackerbau-, Rechts-, Kriegs- und Arzneikunde, bei
Varro — nach wahrscheinlicher Vermuthung — Grammatik, Lo-
gik oder Dialektik, Rhetorik, Geometrie, Arithmetik, Astronomie,
Musik, Medicin und Architektur. Der Moralkatechismus also hat
aufgehört als Bestandtheil der Jugendbildung zu gelten und Kriegs-,
Rechts- und Ackerbaukunde sind aus allgemeinen zu Fachwis-
senschaften geworden. Dagegen tritt bei Varro die hellenische Ju-
gendbildung bereits in ihrer ganzen Vollständigkeit auf: neben dem
grammatisch-rhetorisch-philosophischen Cursus, der schon länger
in Italien recipirt war, findet jetzt auch der länger specifisch hel-
lenisch gebliebene geometrisch-arithmetisch-astronomisch-mu-

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[530/0540] FÜNFTES BUCH. KAPITEL XII. den uralten Weisen — wie Geburt und Tod mit einander ver- wandt sind, so, schien es, sollte Pythagoras nicht bloſs an der Wiege der Republik stehen als der Freund des weisen Numa und College der klugen Mutter Egeria, sondern auch als der letzte Hort der heiligen Vogelweisheit an ihrem Grabe. Das neue Sy- stem war aber nicht bloſs wunderhaft, es wirkte auch Wunder: Nigidius verkündigte dem Vater des nachmaligen Kaisers Augustus an dem Tage selbst, wo dieser geboren ward, die künftige Gröſse des Sohnes; ja die Propheten bannten den Gläubigen Geister und was mehr sagen will, sie wiesen ihnen die Plätze nach, wo ihre verlorenen Münzen lagen. Die neu-alte Weisheit, wie sie nun eben war, machte doch auf die Zeitgenossen einen tiefen Eindruck; die vornehmsten, gelehrtesten, tüchtigsten Männer der verschieden- sten Parteien, der Consul des J. 700 Appius Claudius, der groſse Litterator Marcus Varro, der tapfere Offizier Publius Vatinius machten das Geistercitiren mit und es scheint sogar, daſs gegen das Treiben dieser Gesellschaften polizeilich eingeschritten wer- den muſste. Diese letzten Versuche die römische Theologie zu ret- ten machen, ähnlich wie Catos verwandte Bestrebungen auf dem politischen Gebiet, zugleich einen komischen und einen wehmüthi- gen Eindruck; man darf über das Evangelium wie über die Apo- stel lächeln, aber immer ist es eine ernsthafte Sache, wenn auch die tüchtigen Männer anfangen sich dem Absurden zu ergeben. Die Jugendbildung bewegte sich, wie sich von selbst ver- steht, in dem in der vorigen Epoche vorgezeichneten Kreise zwie- sprachiger Humanität. Charakteristisch für den in der römischen Welt im Laufe eines Jahrhunderts durchaus umgewandelten Be- griff von allgemeiner Bildung ist die Vergleichung der catonischen Encyclopädie (I, 636) mit der gleichnamigen Schrift Varros, von den Schulwissenschaften‘. Als Bestandtheile der nicht fachwis- senschaftlichen Bildung erscheinen bei Cato die Sittenlehre, die Redekunst, die Ackerbau-, Rechts-, Kriegs- und Arzneikunde, bei Varro — nach wahrscheinlicher Vermuthung — Grammatik, Lo- gik oder Dialektik, Rhetorik, Geometrie, Arithmetik, Astronomie, Musik, Medicin und Architektur. Der Moralkatechismus also hat aufgehört als Bestandtheil der Jugendbildung zu gelten und Kriegs-, Rechts- und Ackerbaukunde sind aus allgemeinen zu Fachwis- senschaften geworden. Dagegen tritt bei Varro die hellenische Ju- gendbildung bereits in ihrer ganzen Vollständigkeit auf: neben dem grammatisch-rhetorisch-philosophischen Cursus, der schon länger in Italien recipirt war, findet jetzt auch der länger specifisch hel- lenisch gebliebene geometrisch-arithmetisch-astronomisch-mu-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856, S. 530. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische03_1856/540>, abgerufen am 16.07.2024.