Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856.RELIGION. BILDUNG. ernährten, versteht sich von selbst. Das Horoskopstellen wardschon wissenschaftlich betrieben: Lucius Tarutius aus Firmum, ein angesehener und in seiner Art gelehrter Mann, stellte ganz ernsthaft den Königen Romulus und Numa die Nativität und er- härtete zur Erbauung der beiderseitigen Gläubigen mittelst seiner chaldäischen und aegyptischen Weisheit die Berichte der römi- schen Chronik. Aber bei weitem die merkwürdigste Erscheinung auf diesem Gebiet ist der erste Versuch das rohe Glauben mit dem speculativen Denken zu vermitteln, das erste Hervortreten derjenigen Tendenzen, die wir als neuplatonische zu bezeichnen gewohnt sind, in der römischen Welt. Ihr erster Apostel daselbst war Publius Nigidius Figulus, ein vornehmer Römer von der strengsten Fraction der Aristokratie, der 696 die Prätur beklei- dete und im J. 709 als politischer Verbannter ausserhalb Italien starb. Mit staunenswerther Vielgelehrtheit und noch staunens- wertherer Glaubensstärke schuf er aus den disparatesten Ele- menten einen philosophisch-religiösen Bau, dessen wunderlichen Grundriss er mehr wohl noch in mündlichen Verkündigungen entwickelte als in seinen theologischen und naturwissenschaft- lichen Schriften. In der Philosophie griff er, Erlösung suchend von den Todtengerippen der umgehenden Systeme und Abstrac- tionen, zurück auf den verschütteten Born der vorsokratischen Philosophie, deren alten Weisen der Gedanke selber noch mit sinnlicher Lebendigkeit erschien. Die naturwissenschaftliche For- schung, die, zweckmässig behandelt, dem mystischen Schwindel und der frommen Taschenspielerei auch jetzt noch so vortreff- liche Handhaben darbietet und im Alterthum bei der mangelhaf- teren Einsicht in die physikalischen Gesetze sie noch bequemer darbot, spielte begreiflicher Weise auch hier eine ansehnliche Rolle. Seine Theologie beruhte wesentlich auf dem wunderlichen Gebräu, in dem den geistesverwandten Griechen orphische und andere uralte oder sehr neue einheimische Weisheit mit persi- schen, chaldäischen und aegyptischen Geheimlehren zusammen- geflossen war und in welches Figulus noch die Quasiresultate der tuskischen Forschung in das Nichts und die einheimische Vogel- fluglehre zu weiterer harmonischer Confusion einarbeitete. Dem ganzen System gab die politisch-religiös - nationale Weihe der Name des Pythagoras, des ultraconservativen Staatsmannes, des- sen oberster Grundsatz war, die Ordnung zu fördern und der Un- ordnung zu wehren', des Wundermannes und Geisterbeschwörers, des in Italien heimischen, selbst in Roms Sagengeschichte verfloch- tenen und auf dem römischen Markte im Standbilde zu schauen- Röm. Gesch. III. 34
RELIGION. BILDUNG. ernährten, versteht sich von selbst. Das Horoskopstellen wardschon wissenschaftlich betrieben: Lucius Tarutius aus Firmum, ein angesehener und in seiner Art gelehrter Mann, stellte ganz ernsthaft den Königen Romulus und Numa die Nativität und er- härtete zur Erbauung der beiderseitigen Gläubigen mittelst seiner chaldäischen und aegyptischen Weisheit die Berichte der römi- schen Chronik. Aber bei weitem die merkwürdigste Erscheinung auf diesem Gebiet ist der erste Versuch das rohe Glauben mit dem speculativen Denken zu vermitteln, das erste Hervortreten derjenigen Tendenzen, die wir als neuplatonische zu bezeichnen gewohnt sind, in der römischen Welt. Ihr erster Apostel daselbst war Publius Nigidius Figulus, ein vornehmer Römer von der strengsten Fraction der Aristokratie, der 696 die Prätur beklei- dete und im J. 709 als politischer Verbannter auſserhalb Italien starb. Mit staunenswerther Vielgelehrtheit und noch staunens- wertherer Glaubensstärke schuf er aus den disparatesten Ele- menten einen philosophisch-religiösen Bau, dessen wunderlichen Grundriſs er mehr wohl noch in mündlichen Verkündigungen entwickelte als in seinen theologischen und naturwissenschaft- lichen Schriften. In der Philosophie griff er, Erlösung suchend von den Todtengerippen der umgehenden Systeme und Abstrac- tionen, zurück auf den verschütteten Born der vorsokratischen Philosophie, deren alten Weisen der Gedanke selber noch mit sinnlicher Lebendigkeit erschien. Die naturwissenschaftliche For- schung, die, zweckmäſsig behandelt, dem mystischen Schwindel und der frommen Taschenspielerei auch jetzt noch so vortreff- liche Handhaben darbietet und im Alterthum bei der mangelhaf- teren Einsicht in die physikalischen Gesetze sie noch bequemer darbot, spielte begreiflicher Weise auch hier eine ansehnliche Rolle. Seine Theologie beruhte wesentlich auf dem wunderlichen Gebräu, in dem den geistesverwandten Griechen orphische und andere uralte oder sehr neue einheimische Weisheit mit persi- schen, chaldäischen und aegyptischen Geheimlehren zusammen- geflossen war und in welches Figulus noch die Quasiresultate der tuskischen Forschung in das Nichts und die einheimische Vogel- fluglehre zu weiterer harmonischer Confusion einarbeitete. Dem ganzen System gab die politisch-religiös - nationale Weihe der Name des Pythagoras, des ultraconservativen Staatsmannes, des- sen oberster Grundsatz war, die Ordnung zu fördern und der Un- ordnung zu wehren‘, des Wundermannes und Geisterbeschwörers, des in Italien heimischen, selbst in Roms Sagengeschichte verfloch- tenen und auf dem römischen Markte im Standbilde zu schauen- Röm. Gesch. III. 34
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0539" n="529"/><fw place="top" type="header">RELIGION. BILDUNG.</fw><lb/> ernährten, versteht sich von selbst. Das Horoskopstellen ward<lb/> schon wissenschaftlich betrieben: Lucius Tarutius aus Firmum,<lb/> ein angesehener und in seiner Art gelehrter Mann, stellte ganz<lb/> ernsthaft den Königen Romulus und Numa die Nativität und er-<lb/> härtete zur Erbauung der beiderseitigen Gläubigen mittelst seiner<lb/> chaldäischen und aegyptischen Weisheit die Berichte der römi-<lb/> schen Chronik. Aber bei weitem die merkwürdigste Erscheinung<lb/> auf diesem Gebiet ist der erste Versuch das rohe Glauben mit<lb/> dem speculativen Denken zu vermitteln, das erste Hervortreten<lb/> derjenigen Tendenzen, die wir als neuplatonische zu bezeichnen<lb/> gewohnt sind, in der römischen Welt. Ihr erster Apostel daselbst<lb/> war Publius Nigidius Figulus, ein vornehmer Römer von der<lb/> strengsten Fraction der Aristokratie, der 696 die Prätur beklei-<lb/> dete und im J. 709 als politischer Verbannter auſserhalb Italien<lb/> starb. Mit staunenswerther Vielgelehrtheit und noch staunens-<lb/> wertherer Glaubensstärke schuf er aus den disparatesten Ele-<lb/> menten einen philosophisch-religiösen Bau, dessen wunderlichen<lb/> Grundriſs er mehr wohl noch in mündlichen Verkündigungen<lb/> entwickelte als in seinen theologischen und naturwissenschaft-<lb/> lichen Schriften. In der Philosophie griff er, Erlösung suchend<lb/> von den Todtengerippen der umgehenden Systeme und Abstrac-<lb/> tionen, zurück auf den verschütteten Born der vorsokratischen<lb/> Philosophie, deren alten Weisen der Gedanke selber noch mit<lb/> sinnlicher Lebendigkeit erschien. Die naturwissenschaftliche For-<lb/> schung, die, zweckmäſsig behandelt, dem mystischen Schwindel<lb/> und der frommen Taschenspielerei auch jetzt noch so vortreff-<lb/> liche Handhaben darbietet und im Alterthum bei der mangelhaf-<lb/> teren Einsicht in die physikalischen Gesetze sie noch bequemer<lb/> darbot, spielte begreiflicher Weise auch hier eine ansehnliche<lb/> Rolle. Seine Theologie beruhte wesentlich auf dem wunderlichen<lb/> Gebräu, in dem den geistesverwandten Griechen orphische und<lb/> andere uralte oder sehr neue einheimische Weisheit mit persi-<lb/> schen, chaldäischen und aegyptischen Geheimlehren zusammen-<lb/> geflossen war und in welches Figulus noch die Quasiresultate der<lb/> tuskischen Forschung in das Nichts und die einheimische Vogel-<lb/> fluglehre zu weiterer harmonischer Confusion einarbeitete. Dem<lb/> ganzen System gab die politisch-religiös - nationale Weihe der<lb/> Name des Pythagoras, des ultraconservativen Staatsmannes, des-<lb/> sen oberster Grundsatz war, die Ordnung zu fördern und der Un-<lb/> ordnung zu wehren‘, des Wundermannes und Geisterbeschwörers,<lb/> des in Italien heimischen, selbst in Roms Sagengeschichte verfloch-<lb/> tenen und auf dem römischen Markte im Standbilde zu schauen-<lb/> <fw place="bottom" type="sig">Röm. Gesch. III. 34</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [529/0539]
RELIGION. BILDUNG.
ernährten, versteht sich von selbst. Das Horoskopstellen ward
schon wissenschaftlich betrieben: Lucius Tarutius aus Firmum,
ein angesehener und in seiner Art gelehrter Mann, stellte ganz
ernsthaft den Königen Romulus und Numa die Nativität und er-
härtete zur Erbauung der beiderseitigen Gläubigen mittelst seiner
chaldäischen und aegyptischen Weisheit die Berichte der römi-
schen Chronik. Aber bei weitem die merkwürdigste Erscheinung
auf diesem Gebiet ist der erste Versuch das rohe Glauben mit
dem speculativen Denken zu vermitteln, das erste Hervortreten
derjenigen Tendenzen, die wir als neuplatonische zu bezeichnen
gewohnt sind, in der römischen Welt. Ihr erster Apostel daselbst
war Publius Nigidius Figulus, ein vornehmer Römer von der
strengsten Fraction der Aristokratie, der 696 die Prätur beklei-
dete und im J. 709 als politischer Verbannter auſserhalb Italien
starb. Mit staunenswerther Vielgelehrtheit und noch staunens-
wertherer Glaubensstärke schuf er aus den disparatesten Ele-
menten einen philosophisch-religiösen Bau, dessen wunderlichen
Grundriſs er mehr wohl noch in mündlichen Verkündigungen
entwickelte als in seinen theologischen und naturwissenschaft-
lichen Schriften. In der Philosophie griff er, Erlösung suchend
von den Todtengerippen der umgehenden Systeme und Abstrac-
tionen, zurück auf den verschütteten Born der vorsokratischen
Philosophie, deren alten Weisen der Gedanke selber noch mit
sinnlicher Lebendigkeit erschien. Die naturwissenschaftliche For-
schung, die, zweckmäſsig behandelt, dem mystischen Schwindel
und der frommen Taschenspielerei auch jetzt noch so vortreff-
liche Handhaben darbietet und im Alterthum bei der mangelhaf-
teren Einsicht in die physikalischen Gesetze sie noch bequemer
darbot, spielte begreiflicher Weise auch hier eine ansehnliche
Rolle. Seine Theologie beruhte wesentlich auf dem wunderlichen
Gebräu, in dem den geistesverwandten Griechen orphische und
andere uralte oder sehr neue einheimische Weisheit mit persi-
schen, chaldäischen und aegyptischen Geheimlehren zusammen-
geflossen war und in welches Figulus noch die Quasiresultate der
tuskischen Forschung in das Nichts und die einheimische Vogel-
fluglehre zu weiterer harmonischer Confusion einarbeitete. Dem
ganzen System gab die politisch-religiös - nationale Weihe der
Name des Pythagoras, des ultraconservativen Staatsmannes, des-
sen oberster Grundsatz war, die Ordnung zu fördern und der Un-
ordnung zu wehren‘, des Wundermannes und Geisterbeschwörers,
des in Italien heimischen, selbst in Roms Sagengeschichte verfloch-
tenen und auf dem römischen Markte im Standbilde zu schauen-
Röm. Gesch. III. 34
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |