Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

VIERTES BUCH. KAPITEL XII.
für die Vorstandschaften dieser Collegien schon früher eingeführt
war (I, 602). Es widersprach dies allerdings dem Geiste dieser
Körperschaften, aber dieselben hatten kein Recht darüber sich
zu beklagen, nachdem sie ihrem Geiste selbst untreu geworden
waren und zum Beispiel der Regierung mit religiösen Cassa-
tionsgründen auf Verlangen an die Hand gingen. Diese Angele-
genheit ward ein Zankapfel der Parteien; den ersten Sturm
im J. 609 schlug der Senat ab, wobei namentlich der scipioni-
sche Kreis für die Verwerfung des Antrags den Ausschlag gab;
dagegen ging im J. 650 mit der früher bei der Wahl der Vor-
stände gemachten Beschränkung zum Besten bedenklicher Ge-
wissen, dass nicht die ganze Bürgerschaft, sondern nur der klei-
nere Theil der Bezirke zu wählen habe, der Vorschlag durch
(S. 188); endlich stellte Sulla das Cooptationsrecht in vollem
Umfang wieder her (S. 335). Mit dieser Fürsorge der Conser-
vativen für die reine Landesreligion vertrug es natürlich sich
aufs Beste, dass eben in den vornehmsten Kreisen mit der-
selben offen Spott getrieben und sie sehr häufig dazu be-
nutzt ward den Scandal pikanter zu machen. Es war ein
Lieblingsvergnügen vornehmer junger Herren zur Nachtzeit auf
den Strassen die Götterbilder zu schänden oder zu verstümmeln
(S. 200). Gewöhnliche Liebeshändel waren längst gemein und
Verständnisse mit Ehefrauen fingen an es zu werden; aber ein
Verhältniss zu einer Vestalin war so pikant wie in der Welt des
Decamerone die Nonnenliebschaft und das Klosterabenteuer.
Bekannt ist der arge Handel des J. 640 fg., in welchem drei Ve-
stalinnen, Töchter der vornehmsten Familien, und deren Lieb-
haber, junge Männer gleichfalls aus den besten Häusern, zuerst
vor dem Pontificalcollegium, und da dies die Sache zu vertuschen
suchte, vor einem durch eigenen Volksschluss eingesetzten ausser-
ordentlichen Gericht wegen Unzucht zur Verantwortung gezogen
und sämmtlich zum Tode verurtheilt wurden. Solchen Scandal
nun konnten freilich gesetzte Leute nicht billigen; aber dagegen
war nichts einzuwenden, dass man die positive Religion im Stil-
len und im vertrauten Kreis albern fand; die Augurn konnten,
wenn einer den andern fungiren sah, sich einander ins Gesicht
lachen unbeschadet ihrer religiösen Pflichten. Man gewinnt die
bescheidene Heuchelei verwandter Richtungen ordentlich lieb,
wenn man die crasse Unverschämtheit der römischen Priester
und Leviten damit vergleicht. Ganz unbefangen ward die officielle
Religion als ein hohles Gerüste behandelt, das nur noch den po-
litischen Maschinisten diente und mit seinen zahllosen Winkeln

VIERTES BUCH. KAPITEL XII.
für die Vorstandschaften dieser Collegien schon früher eingeführt
war (I, 602). Es widersprach dies allerdings dem Geiste dieser
Körperschaften, aber dieselben hatten kein Recht darüber sich
zu beklagen, nachdem sie ihrem Geiste selbst untreu geworden
waren und zum Beispiel der Regierung mit religiösen Cassa-
tionsgründen auf Verlangen an die Hand gingen. Diese Angele-
genheit ward ein Zankapfel der Parteien; den ersten Sturm
im J. 609 schlug der Senat ab, wobei namentlich der scipioni-
sche Kreis für die Verwerfung des Antrags den Ausschlag gab;
dagegen ging im J. 650 mit der früher bei der Wahl der Vor-
stände gemachten Beschränkung zum Besten bedenklicher Ge-
wissen, daſs nicht die ganze Bürgerschaft, sondern nur der klei-
nere Theil der Bezirke zu wählen habe, der Vorschlag durch
(S. 188); endlich stellte Sulla das Cooptationsrecht in vollem
Umfang wieder her (S. 335). Mit dieser Fürsorge der Conser-
vativen für die reine Landesreligion vertrug es natürlich sich
aufs Beste, daſs eben in den vornehmsten Kreisen mit der-
selben offen Spott getrieben und sie sehr häufig dazu be-
nutzt ward den Scandal pikanter zu machen. Es war ein
Lieblingsvergnügen vornehmer junger Herren zur Nachtzeit auf
den Straſsen die Götterbilder zu schänden oder zu verstümmeln
(S. 200). Gewöhnliche Liebeshändel waren längst gemein und
Verständnisse mit Ehefrauen fingen an es zu werden; aber ein
Verhältniſs zu einer Vestalin war so pikant wie in der Welt des
Decamerone die Nonnenliebschaft und das Klosterabenteuer.
Bekannt ist der arge Handel des J. 640 fg., in welchem drei Ve-
stalinnen, Töchter der vornehmsten Familien, und deren Lieb-
haber, junge Männer gleichfalls aus den besten Häusern, zuerst
vor dem Pontificalcollegium, und da dies die Sache zu vertuschen
suchte, vor einem durch eigenen Volksschluſs eingesetzten auſser-
ordentlichen Gericht wegen Unzucht zur Verantwortung gezogen
und sämmtlich zum Tode verurtheilt wurden. Solchen Scandal
nun konnten freilich gesetzte Leute nicht billigen; aber dagegen
war nichts einzuwenden, daſs man die positive Religion im Stil-
len und im vertrauten Kreis albern fand; die Augurn konnten,
wenn einer den andern fungiren sah, sich einander ins Gesicht
lachen unbeschadet ihrer religiösen Pflichten. Man gewinnt die
bescheidene Heuchelei verwandter Richtungen ordentlich lieb,
wenn man die crasse Unverschämtheit der römischen Priester
und Leviten damit vergleicht. Ganz unbefangen ward die officielle
Religion als ein hohles Gerüste behandelt, das nur noch den po-
litischen Maschinisten diente und mit seinen zahllosen Winkeln

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0410" n="400"/><fw place="top" type="header">VIERTES BUCH. KAPITEL XII.</fw><lb/>
für die Vorstandschaften dieser Collegien schon früher eingeführt<lb/>
war (I, 602). Es widersprach dies allerdings dem Geiste dieser<lb/>
Körperschaften, aber dieselben hatten kein Recht darüber sich<lb/>
zu beklagen, nachdem sie ihrem Geiste selbst untreu geworden<lb/>
waren und zum Beispiel der Regierung mit religiösen Cassa-<lb/>
tionsgründen auf Verlangen an die Hand gingen. Diese Angele-<lb/>
genheit ward ein Zankapfel der Parteien; den ersten Sturm<lb/>
im J. 609 schlug der Senat ab, wobei namentlich der scipioni-<lb/>
sche Kreis für die Verwerfung des Antrags den Ausschlag gab;<lb/>
dagegen ging im J. 650 mit der früher bei der Wahl der Vor-<lb/>
stände gemachten Beschränkung zum Besten bedenklicher Ge-<lb/>
wissen, da&#x017F;s nicht die ganze Bürgerschaft, sondern nur der klei-<lb/>
nere Theil der Bezirke zu wählen habe, der Vorschlag durch<lb/>
(S. 188); endlich stellte Sulla das Cooptationsrecht in vollem<lb/>
Umfang wieder her (S. 335). Mit dieser Fürsorge der Conser-<lb/>
vativen für die reine Landesreligion vertrug es natürlich sich<lb/>
aufs Beste, da&#x017F;s eben in den vornehmsten Kreisen mit der-<lb/>
selben offen Spott getrieben und sie sehr häufig dazu be-<lb/>
nutzt ward den Scandal pikanter zu machen. Es war ein<lb/>
Lieblingsvergnügen vornehmer junger Herren zur Nachtzeit auf<lb/>
den Stra&#x017F;sen die Götterbilder zu schänden oder zu verstümmeln<lb/>
(S. 200). Gewöhnliche Liebeshändel waren längst gemein und<lb/>
Verständnisse mit Ehefrauen fingen an es zu werden; aber ein<lb/>
Verhältni&#x017F;s zu einer Vestalin war so pikant wie in der Welt des<lb/>
Decamerone die Nonnenliebschaft und das Klosterabenteuer.<lb/>
Bekannt ist der arge Handel des J. 640 fg., in welchem drei Ve-<lb/>
stalinnen, Töchter der vornehmsten Familien, und deren Lieb-<lb/>
haber, junge Männer gleichfalls aus den besten Häusern, zuerst<lb/>
vor dem Pontificalcollegium, und da dies die Sache zu vertuschen<lb/>
suchte, vor einem durch eigenen Volksschlu&#x017F;s eingesetzten au&#x017F;ser-<lb/>
ordentlichen Gericht wegen Unzucht zur Verantwortung gezogen<lb/>
und sämmtlich zum Tode verurtheilt wurden. Solchen Scandal<lb/>
nun konnten freilich gesetzte Leute nicht billigen; aber dagegen<lb/>
war nichts einzuwenden, da&#x017F;s man die positive Religion im Stil-<lb/>
len und im vertrauten Kreis albern fand; die Augurn konnten,<lb/>
wenn einer den andern fungiren sah, sich einander ins Gesicht<lb/>
lachen unbeschadet ihrer religiösen Pflichten. Man gewinnt die<lb/>
bescheidene Heuchelei verwandter Richtungen ordentlich lieb,<lb/>
wenn man die crasse Unverschämtheit der römischen Priester<lb/>
und Leviten damit vergleicht. Ganz unbefangen ward die officielle<lb/>
Religion als ein hohles Gerüste behandelt, das nur noch den po-<lb/>
litischen Maschinisten diente und mit seinen zahllosen Winkeln<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[400/0410] VIERTES BUCH. KAPITEL XII. für die Vorstandschaften dieser Collegien schon früher eingeführt war (I, 602). Es widersprach dies allerdings dem Geiste dieser Körperschaften, aber dieselben hatten kein Recht darüber sich zu beklagen, nachdem sie ihrem Geiste selbst untreu geworden waren und zum Beispiel der Regierung mit religiösen Cassa- tionsgründen auf Verlangen an die Hand gingen. Diese Angele- genheit ward ein Zankapfel der Parteien; den ersten Sturm im J. 609 schlug der Senat ab, wobei namentlich der scipioni- sche Kreis für die Verwerfung des Antrags den Ausschlag gab; dagegen ging im J. 650 mit der früher bei der Wahl der Vor- stände gemachten Beschränkung zum Besten bedenklicher Ge- wissen, daſs nicht die ganze Bürgerschaft, sondern nur der klei- nere Theil der Bezirke zu wählen habe, der Vorschlag durch (S. 188); endlich stellte Sulla das Cooptationsrecht in vollem Umfang wieder her (S. 335). Mit dieser Fürsorge der Conser- vativen für die reine Landesreligion vertrug es natürlich sich aufs Beste, daſs eben in den vornehmsten Kreisen mit der- selben offen Spott getrieben und sie sehr häufig dazu be- nutzt ward den Scandal pikanter zu machen. Es war ein Lieblingsvergnügen vornehmer junger Herren zur Nachtzeit auf den Straſsen die Götterbilder zu schänden oder zu verstümmeln (S. 200). Gewöhnliche Liebeshändel waren längst gemein und Verständnisse mit Ehefrauen fingen an es zu werden; aber ein Verhältniſs zu einer Vestalin war so pikant wie in der Welt des Decamerone die Nonnenliebschaft und das Klosterabenteuer. Bekannt ist der arge Handel des J. 640 fg., in welchem drei Ve- stalinnen, Töchter der vornehmsten Familien, und deren Lieb- haber, junge Männer gleichfalls aus den besten Häusern, zuerst vor dem Pontificalcollegium, und da dies die Sache zu vertuschen suchte, vor einem durch eigenen Volksschluſs eingesetzten auſser- ordentlichen Gericht wegen Unzucht zur Verantwortung gezogen und sämmtlich zum Tode verurtheilt wurden. Solchen Scandal nun konnten freilich gesetzte Leute nicht billigen; aber dagegen war nichts einzuwenden, daſs man die positive Religion im Stil- len und im vertrauten Kreis albern fand; die Augurn konnten, wenn einer den andern fungiren sah, sich einander ins Gesicht lachen unbeschadet ihrer religiösen Pflichten. Man gewinnt die bescheidene Heuchelei verwandter Richtungen ordentlich lieb, wenn man die crasse Unverschämtheit der römischen Priester und Leviten damit vergleicht. Ganz unbefangen ward die officielle Religion als ein hohles Gerüste behandelt, das nur noch den po- litischen Maschinisten diente und mit seinen zahllosen Winkeln

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/410
Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 400. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/410>, abgerufen am 01.08.2024.